Sehr geehrte Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages
Die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Ulla Schmidt, hatte am 16.01.2009 ein Schreiben an die Mitglieder der derzeitigen Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD versandt und zu den „Praxisbezogenen Honorarwirkungen der Vergütungsreform bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten“ Stellung bezogen.
In ihrem vierseitigen Schreiben sowie der beigefügten sechsseitigen Anlage kommt sie zusammenfassend zu folgenden zwei entscheidenden Schlüssen:
1) Die seit dem 01.01.2009 für alle niedergelassenen Ärzte geltenden, ärztlicherseits heftig umstrittenen und von diesen als insolvenzgefährdend eingestuften sog. Regelleistungsvolumina (RLVs), machten tatsächlich nur einen Teil der späteren Vergütung eines jeden Arztes aus und würden deshalb von diesen falsch bewertet. Darüber hinaus gäbe es eine Vielzahl von weiterhin einzeln vergüteter, unbudgetierter Leistungen, welche die wirklichen Honorare in vielen Fällen letztlich weit höher ausfallen ließen.
2) Für die Höhe der RLVs sei nicht das BMG, sondern allein die ärztliche Selbstverwaltung, d.h. die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), bzw. die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), zuständig. Sie hätten hohe Rücklagen gebildet, so dass den Ärzten zu wenig Honorar in Aussicht gestellt werde, was zu großer Unruhe in der Ärzteschaft führen würde.
Als große Gruppe bundesweit niedergelassener Ärzte der verschiedensten Fachgruppen, die seit Jahren im Internet kommunizieren, erlauben wir uns, auf folgende Tatsachen und Konsequenzen hinzuweisen:
Jeder niedergelassene Arzt betreibt ein kleines Wirtschaftsunternehmen und trägt als Teil des deutschen Mittelstandes wesentlich an der Aufrechterhaltung des deutschen Staatswesens als wichtiger Steuerzahler bei. Nach einer Statistik von 2007 des Bundesministeriums für Finanzen (BMF) wird 62,3% der Steuerlast von nur 15% der deutschen Bevölkerung getragen. Dazu zählen auch wir niedergelassene Ärzte.
Auch ist das Gesundheitswesen der größte staatliche Arbeitgeber überhaupt in unserem Land. Allein die niedergelassene deutsche Ärzteschaft beschäftigt weit über 300.000 Arzthelferinnen, von Mitgliedern anderer Berufszweige ganz abgesehen. Faktum ist: Ein Großteil der derzeit etwa 140.000 deutschen Arztpraxen ist aufgrund zahlreicher Neuerungen der Gesundheitsreform und den heutigen RLVs in ein planwirtschaftliches Korsett gezwängt und massiv in ihrer Existenz bedroht, was zugleich zur Freisetzung vieler Zigtausender Helferinnen und anderer Mitarbeiter führen wird. Völlig widersinnig wird hierdurch die deutsche Wirtschaftskraft in einer der schwersten Krisen der Nachkriegszeit zusätzlich und nachhaltig geschwächt werden.
Begründungen:
1) Dass die niedergelassene Ärzteschaft ganz offensichtlich keine ausreichenden Vergütungen erhält, obwohl das Gesamthonorar im Vergleich der Jahre 2007 und 2009 um 2,75 Mrd. Euro gestiegen sei, wird nur zum Teil in dem maßgeblichen Schreiben des BMG bestritten; denn es wird ja wortreich mit Schuldigen für Verwerfungen gehandelt: So seien die KBV und die KVen für die kritisierten Verzerrungen nach Ansicht des BMG verantwortlich. Für uns niedergelassene Ärzte ist es zunächst völlig unerheblich, wo die Probleme der Honorarverteilung im Einzelnen zu suchen sind. Selbst wenn die ärztliche Selbstverwaltung an einer unzureichenden Verteilung dieser Gelder eine Mitschuld treffen sollte, so bleibt grundsätzlich festzustellen, dass es sich bei der KBV und den KVen um Körperschaften des Öffentlichen Rechts handelt, die unmittelbar dem BMG und den entsprechenden Landesministerien unterstehen. Die Aufsicht für die KBV liegt beim BMG. Ein Verweis auf untergeordnete Stellen durch das BMG, vertreten durch Frau Schmidt, ist billig und unzulässig.
2) Auch ist die Schuldfrage aus Sicht von uns niedergelassenen Ärzten absolut zweitrangig: Für uns ist allein entscheidend, mit welchen finanziellen Mitteln wir verbindlich auch schon zu Anfang 2009 rechnen können. Ein Unternehmen, welches nur auf eventuelle Aussichten auf Erhöhung zunächst verbindlich zugesagter, aber völlig unzureichender Honorare zumindest viele Monate in diesem Jahr wirtschaften soll, hat von vornherein keine Überlebenschance.
3) Die Mittelwerte der verbindlich zugesagten, sogenannten Fallwerte für die KV-Bezirke Bayern, Bremen, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe sehen beispielhaft wie folgt aus: Allgemeinmedizin, 38,3 €; Chirurgie, 30,0 €; Orthopädie, 32,8 €; Augenärzte, 22,7 €; Gynäkologen, 18,1 €; HNO, 31,3 €; Hautärzte, 20,0 €; Neurologen, 44,9 €; Urologen, 29,0 €. Für diese sehr niedrigen und allein verbindlichen Beträge sollen niedergelassene Ärzte für ein ganzes Quartal einen Kassenpatienten auf möglichst hohen, gewohnten Qualitätsniveau behandeln. Dies ist schlichtweg unmöglich. Oberflächlichkeit und Massenmedizin werden Trumpf, Qualität muss auf der Strecke bleiben. Zahlreiche Patienten werden wegen jetzt strikt begrenzter Fallzahlen abgelehnt werden müssen.
Auch die von Frau Schmidt konzedierten diversen Zusatzbudgets verbessern unsere Situation nicht einmal marginal: So erhält ein Orthopäde zum Beispiel ein Zusatzbudget von 5 € pro Patient und Quartal für sämtliche Röntgenleistungen. Die kleinsten Röntgenbilder sind zu diesem Preis nicht zu erbringen.
4) Unabhängig hiervon muss sich der niedergelassene Arzt sein völlig unzureichendes RLV erst auch noch verdienen. Den von ihm zu erbringenden Leistungen wird zunächst weiterhin eine Punktzahl zugrunde gelegt. Jeder Punkt wird dann mit einem Punktwert von 3,5001 ct. bewertet (Orientierungspunktwert). Bereits im Jahr 2000 war aufgrund erster betriebswirtschaftlicher Rechnungen bereits ein Punktwert von 5,11 ct. pro Punkt als minimaler Konsens für ein betriebswirtschaftliches Überleben ermittelt worden.
Heute, 8 Jahre später, müssen die Ärzte bei einem so um weitere 30% reduzierten Punktwert diesen minimalen Punkten wie in einem Hamsterrad nachrennen, um überhaupt auf das bereits erwähnte untragbare RLV-Niveau zu kommen. Diese Situation ist schlichtweg ruinös.
5) Auch wortreiche Beschwichtigungen seitens der Gesundheitsministerin, ein Großteil von Leistungen unterlägen nicht den RLVs, sondern würden extrabudgetär vergütet, zielen ins Leere. Nicht nur dass viele Ärzte derartige Leistungen überhaupt nicht abrechnen können, nein, deren Punktwerte, selbst wenn sie für einzelne Leistungen noch nach oben korrigiert werden und in einigen Fällen auf bis etwa 4,5 ct. pro Punkt kommen, sind auch dann nicht einmal kostendeckend - von einem vernünftigen Ärztehonorar, das auch den Respekt vor einer qualifizierten ärztlichen Leistung widerspiegelt, ganz zu schweigen.
Aus diesen und weiteren Gründen ergeben sich für alle niedergelassenen Ärzte folgende unausweichlichen Konsequenzen:
1) Die gesetzlichen Vorgaben des SGB 5, §12, wonach dem gesetzlich Versicherten allein Leistungen, die „notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein müssen, werden von uns Ärzten ab sofort rechtskonform absolut streng gehandhabt werden müssen. Sämtliche Leistungen und Maßnahmen die z.B. über ein „ausreichend“, d.h. einen gesetzlich geforderten, „notwendigen Mindeststandard“ hinausgehen, werden nun auch dem gesetzlich Versicherten nur noch gegen Bezahlung angeboten. Terminvereinbarungen für gesetzlich Versicherte werden auf ein gesetzliches Mindestmaß zurückgeführt, nur akute medizinische Notfälle werden noch zeitnah zu behandeln sein, die Wartezeiten auf Behandlungen werden für gesetzliche Versicherte erheblich steigen.
2) Die dramatische Unterfinanzierung der niedergelassenen Ärzte im bundesdeutschen Gesundheitswesen wird in den Arztpraxen ab sofort konsequent, sowohl verbal im täglichen Patientengespräch, als auch schriftlich mittels zahlreichen Handzetteln und Aushängen, ausführlich thematisiert werden.
3) Die niedergelassenen Ärzte werden mit zahlreichen Aktionen bis hin zu gemeinsamen mehrheitlichen Fortbildungen, auch im Ausland und über viele Tage, ja sogar eventuell Wochen, aber auch mit regionalen Aktivitäten auf diese Politik aufmerksam machen und gegen diese Politik protestieren. Es wird damit zu rechnen sein müssen, dass diese Aktionen bis zur bevorstehenden Bundestagswahl im September 2009 zahlen- und umfangmäßig deutlich zunehmen werden.
Wir dürfen Sie alle bitten, diesen Brandbrief sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen und sich für eine grundsätzliche Erneuerung der deutschen Gesundheitspolitik zum Wohle aller Bundesbürger umgehend und zeitnah stark zu machen.
Wir können und werden mit unseren Maßnahmen nicht mehr warten und uns auch auf keine weiteren Beschwichtigungen einlassen. Diese Zeit haben wir heute nicht mehr, das Wasser steht uns allen längst bis zum Hals.
Mit freundlichen Grüßen
Aktive Forums-Vertreter der niedergelassenen Ärzteschaft
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