Die Uni Bielefeld hat im Auftrag der AOK eine Studie zur „Gesundheitskompetenz vulnerabler Bevölkerungsgruppen“ gemacht. Die Berichte darüber sind irreführend, und die politischen Statements dazu mehr als fragwürdig.
Befragt wurden jeweils 500 Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und Menschen ab 65, jeweils zur Hälfte mit Migrationshintergrund. Wenig überraschend ist das Ergebnis,
"dass die Gesundheitskompetenz der befragten sozial benachteiligten Gruppen deutlich unter der durchschnittlichen Gesundheitskompetenz der Allgemeinbevölkerung liegt" (Seite 25) - Lese- und Rechenkenntnisse und damit die funktionale Gesundheitskompetenz seien also eher gering. Hinzu kommen sprachliche Hindernisse: je besser die Deutschkenntnisse, desto höher die Gesundheitskompetenz (Seite 55).
Für eine höhere Gesundheitskompetenz braucht man also zusammengefasst (Captain Obvious lässt grüßen):
- ein höheres Bildungsniveau
- bessere Sprachkenntnisse
2. Können Ärzte den vulnerablen Gruppen trotzdem verständlich erklären, was zu tun ist? Ja, können sie:
Der Hausarzt ist für alle Befragten die erste Anlaufstelle bei Gesundheitsfragen. Insgesamt verstehen rund 80% der Befragten die Anweisungen zur Einnahme von Medikamenten (Seite 14, Item 8), und 70% verstehen, was ihr Arzt ihnen sagt (Item 5), und welche Entscheidungen zu treffen sind (Item 13).
Nur jeder Vierte der Befragten aus den vulnerablen Gruppen versteht also seinen Arzt nicht.
3. Wie wird nun über die Studie berichtet?
Jeder zweite Deutsche versteht seinen Arzt nicht - Augsburger Allgemeine
Jeder Zweite versteht seinen Arzt nicht – Tagesspiegel
Viele Patienten in Deutschland verstehen ihre Ärzte nicht – WAZ
Mehr als die Hälfte der Deutschen hat Schwierigkeiten, die Erklärungen seines Arztes zu verstehen – Frankfurter Rundschau
Schreiben die voneinander ab? Professionelle Echolalie?
Nochmal zur Korrektur:
Ein Viertel (jeder Vierte, 25%) der Befragten aus den vulnerablen Gruppen hat Verständnisprobleme – und nicht „mehr als die Hälfte aller Deutschen“: im Durchschnitt ist deren Gesundheitskompetenz nämlich höher als bei den vulnerablen Gruppen, sodass die Verständnisprobleme insgesamt bei deutlich unter 25% liegen dürften.
4. Was sagt unser Gesundheitsminister denn dazu?
Auf seiner Homepage drückt er sich noch versöhnlich aus:
"Wichtig ist vor allem auch das Arzt-Patienten-Gespräch, um Patienten die Diagnose und Behandlung verständlich zu erklären. Die sprechende Medizin muss deshalb in der Ausbildung und vor allem auch der Weiterbildung von Ärzten und Pflegenden eine stärkere Rolle spielen."
In der Laienpresse hört er sich dann so an:
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) forderte "ein Recht auf Verständlichkeit". Es sei nicht nötig, komplizierte Zusammenhänge so auszudrücken, dass Menschen sie nicht verstehen.“ (Augsburger Allgemeine)
Es gebe ein "Recht auf Verständlichkeit", betonte der Minister. Um komplexe Sachverhalte darzustellen, müsse man nicht in Fachchinesisch verfallen. Aber womöglich gehe es manchem Mediziner mit der Verwendung von schwer verständlichem Vokabular ja auch um eine "Demonstration von Herrschaftswissen". (Tagesspiegel)
„Ein verständlicher Satz eines Arztes muss nicht besser bezahlt werden als ein unverständlicher. Auch ein verständliches Gespräch muss nicht länger sein als ein unverständliches.“ (WAZ)
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) forderte „ein Recht auf Verständlichkeit“. (…) Gröhe lehnt es in diesem Zusammenhang ab, den Medizinern für das bessere Eingehen auf die Bedürfnisse der Patienten mehr Geld zu zahlen. „Ein verständlicher Satz muss nicht besser vergütet werden als ein unverständlicher“, so der CDU-Politiker. (Frankfurter Rundschau)
Professionelles Danebenreden. Krass.
5. Mein Fazit:
- Deutschland braucht mehr Bildung.
- Zeitungen sollten die vorliegenden, leicht zu recherchierenden Daten richtig darstellen.
- Der Gesundheitsminister sollte seinen abwertenden Tonfall überdenken und bekennen, dass er für die ausreichende finanzielle Ausstattung der sprechenden Medizin verantwortlich ist.