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Alte Vorurteile gegen psychisch Kranke

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der Berufsverband für Nervenärzte (BVDN) und der Berufsverband für Psychiater (BVDP) wenden sich gegen die unwissenschaftlichen Schlussfolgerungen über die Verschreibung von Psychopharmaka sowie die erneute Stigmatisierung psychisch Kranker im aktuellen Barmer-Arzneimittelreport.

Nach dem aktuellen Arzneimittelreport 2012 der Barmer GEK bekommen Frauen etwa zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka – wie Antidepressiva, Schlafmittel oder Tranquilizer – verschrieben als Männer. In einer Pressekonferenz am 26. Juni 2012 in Berlin erklärten die Autoren dazu, dass solche „geschlechtsspezifischen Differenzen [...] medizinisch kaum begründbar [seien]“, den Leilinien widersprächen und ein „hohes Abhängigkeitsrisiko“ bergen würden. Einer der Autoren des Arzneimittelreports, Prof. Gerd Glaeske vom Institut für Sozialpolitik der Universität Bremen, ergänzt, dass „nach wie vor die hohe Verordnungsrate von beruhigenden Psychopharmaka und Schlafmitteln bei Frauen“ problematisch erscheine. „Im Vergleich zu Männern“ sei festzustellen, „dass Tranquilizer, Antidepressiva und Schlafmittel ohne erkennbare therapeutische Indikation in einer Menge verordnet werden, die auf Dauer zu erheblichen unerwünschten Wirkungen führen kann.“ Bei vielen Antidepressiva entstünden „nach längerer Einnahmezeit Probleme beim Absetzen, die Betroffenen mögen oder können ohne die Arzneimittel ihre Alltagsbelastung nicht mehr aushalten.“ Und weiter führt er aus, dass „das Risiko, auch bei Missbefindlichkeiten im Alltag Arzneimittel verordnet zu bekommen“, relativ hoch sei.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie der Berufsverband für Nervenärzte (BVDN) und der Berufsverband für Psychiater (BVDP) wenden sich entschieden gegen die völlig unbegründeten, unwissenschaftlichen Schlussfolgerungen, die die Autoren des Arzneimittelreports aus den vorgelegten Zahlen ziehen. Leider werden, wie in den vergangenen Jahren auch, lediglich Vorurteile verbreitet, die der Stigmatisierung psychischer Störungen weiter Vorschub leisten und diesen den Status von „Missbefindlichkeiten“ einräumen.

Die aktuelle Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) des Robert-Koch-Instituts bestätigt die hohe Public-Health-Relevanz psychischer Gesundheit in der Bevölkerung. Die vorläufige statistische Auswertung der Ergebnisse ergab, dass nahezu jeder vierte männliche und jede dritte weibliche Erwachsene im Erhebungsjahr zumindest zeitweilig unter voll ausgeprägten psychischen Störungen gelitten haben. Zudem wurden am häufigsten Angst- und depressive Störungen festgestellt, gefolgt von Substanz- und somatoformen Störungen. Typisch für psychische Störungen sind eine ausgeprägte Komorbidität, eine hohe Anzahl an Ausfalltagen und eine niedrige Behandlungsrate.

Die Psychopharmakotherapie ist ein wichtiger und integraler Bestandteil der Behandlung psychischer Störungen. Es gibt keinerlei Hinweise – auch nicht im aktuellen Barmer GEK Arzneimittelreport – dass eine Überversorgung der Bevölkerung mit Psychopharmaka vorliegt, wie dies die Autoren des Reports mit Formulierungen wie „ohne therapeutische Indikation“ suggerieren. Unter den 20 am häufigsten verordneten Arzneimitteln, die der Report auflistet, findet sich kein einziges Psychopharmakon, und unter den 20 umsatzstärksten Pharmaka ist lediglich ein einziges Medikament, mit dem auch Angststörungen behandelt werden, aufgeführt (und zwei Medikamente zur Behandlung von Schizophrenien). Gerade große Aufklärungskampagnen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass viele betroffene Patienten ärztliche Hilfe suchen und in Anspruch nehmen. Dazu gehört vielfach auch eine Therapie mit Psychopharmaka. Äußerungen, dass Menschen ohne diese „Arzneimittel ihre Alltagsbelastung nicht mehr aushalten“ könnten, sind jedoch aus Sicht der DGPPN unwissenschaftlich und realitätsfern. Viele psychische Störungen sind chronische Erkrankungen, die eine Dauertherapie mit Psychopharmaka erfordern. Dass dies „auf Dauer zu erheblichen unerwünschten Wirkungen führen“ kann, ist richtig. Dies gilt aber genauso für jede andere Arzneimitteltherapie z.B. von Bluthochdruck und Diabetes. Der Nutzen einer langfristigen Psychopharmakotherapie überwiegt meist deutlich deren Risiken. Erst eine Pharmakotherapie erlaubt in vielen Fällen den betroffenen Patienten wieder ein selbstbestimmtes Leben mit hoher Lebensqualität. Dass beim Absetzen eines Antidepressivums Absetzprobleme auftreten können, ist richtig und gut bekannt. Dies gilt aber für jede andere Pharmakotherapie auch. Auch ein Blutdruck steigt wieder, wenn der davon betroffene Patient sein blutdrucksenkendes Medikament absetzt.

Es ist richtig, dass die Gruppe der Tranquilizer und Hypnotika bei längerer Verabreichung Abhängigkeitsrisiken birgt. Zu Recht weist darauf der Arzneimittelreport hin. Aus dem Report gehen aber keinerlei Daten hervor, die die Häufigkeit von Missbrauch und Abhängigkeit von diesen Substanzen belegen. Hervorzuheben ist aber – und diese Zahlen liegen vor, sie wer-den leider nicht hervorgehoben – dass die allermeisten Verordnungen dieser Medikamente nur kurzfristig verordnet werden. Langfristige Verordnungen sind die absolute Ausnahme, und ob diese Verordnungen medizinisch unbegründet sind, ist den Zahlen nicht zu entnehmen.

Dass Frauen häufiger als Männern ein Psychopharmakon verordnet wird, ist gut bekannt. Bei Frauen sind Depressionen und Angststörungen weit häufiger als bei Männern, und ihre Bereitschaft, sich mit psychischen Störungen in ärztliche Behandlung zu begeben, ist höher. Dies zeigt ganz aktuell das DEGS Gesundheitssurvey des RKI, in dem z.B. 20 Prozent der befragten Frauen in der Altersgruppe 40-64 Jahre im Vergleich zu 10 Prozent der Männer jemals mit einer  Depression diagnostiziert wurden. Bei Männern sind demgegenüber Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol bis zu fünfmal häufiger als bei Frauen. Aus diesen Geschlechtsunterschieden in der Häufigkeit von psychischen Störungen und dem Inanspruchnahmeverhalten von ärztlichen Leistungen zu schließen, dass bei Frauen eine Übermedikalisierung vorliege, ist völlig abwegig und durch keinerlei Zahlen gedeckt. Eine psychopharmakologische Behandlung erfolgt leitlinienbasiert (s. z.B. S3-Leitlinie Depression (DGPPN 2010), S3-Leitlinie Angststörungen (Dengler, Selbmann 2000) und ist für Depressionen und Angststörungen häufiger notwendig als z.B. für Alkoholerkrankungen. Trotz dieser Tatsache werden nach wie vor ca. 50 Prozent aller Depressionen überhaupt nicht behandelt (z.B. The World Health Report 2001). Der Arzneimittelkonsum von Psychopharmaka müsste leitlinienbasiert danach viel höher sein.

DGPPN, BVDN und BVDP bedauert, dass die Autoren des Barmer GEK Arzneimittelreports 2012 gerade mit ihren erläuternden, in der Pressekonferenz gemachten Aussagen, die po-lemisch und unwissenschaftlich sind, erneut den psychisch Kranken in Deutschland einen Bärendienst erwiesen haben, indem sie eine rationale Psychopharmakotherapie in Frage stellen und suggerieren, dass es sich bei psychischen Störungen um Befindlichkeitsstörungen handelt.

Autoren der Stellungnahme: G. Gründer (Aachen), W. Maier (Bonn), F. Bergmann (Aachen), C. Roth-Sackenheim (Andernach), P. Falkai (München)

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