Dr. Stein und das Regelschankleistungsvolumen
Dr. Frank Stein hatte mitten in der ZK-MVZ-Spezialspätsprechstunde für gesunde Pubertierende einen Anruf seines Freundes Wilfried erhalten. Der war damals in die Fußstapfen der Eltern getreten und hatte das gut eingeführte Restaurant „Wilder Ochse“ im bürgerlichen Stadtteil Entenhagen übernommen. Jahrelang war es gut gelaufen. Nun aber hatte Wilfried ernste Probleme und er brauchte den Rat seines Freundes. Also sass Stein nun in der blitzsauberen Restaurantküche, wo ihm ein Glas Wein und ein Teller seiner Lieblingsspaghetti serviert wurde.
Der Gastwirt Wilfried Bacchus war verzweifelt. Seit das Bundesernährungsministerium das Modell der sozialen Gerechtigkeit für alle Gastwirtschaftsbetriebe verbindlich gemacht hatte, war nichts mehr wie zuvor. Fünfzehn Prozent des Einkommens wurden jedem Bürger jetzt monatlich von der Ernährungsagentur in den Gastrofond einbehalten. Dafür bekam er ein Plastikkärtchen, die Gastrocard, mit der er das Restaurant aufsuchen durfte. Damit konnte er, so oft er wollte, aus der Speisekarte bestellen.
Das wusste Stein, so ein Kärtchen hatte er auch bekommen. Aber Bacchus hatte Neuigkeiten: jedem Gastwirt war kürzlich ein sogenanntes Regelschankleistungsvolumen (RLV) zugeteilt worden, das – unabhängig von der Zahl der Gäste – den Höchstumsatz begrenzte, der von der Ernährungsagentur gezahlt wurde. Dabei wurde das RLV immer aus der Gästezahl des Vorjahresmonats errechnet. Auf der Speisekarte gab es keine Preise mehr, dafür hatte jeder Wirt ein kompliziertes 200 seitiges Regelwerk in der Küche liegen, den sogenannten Einheitlichen Bewirtungsmaßstab (EBM). Darin war festgelegt, dass ein Schnitzel inklusive Beilagen mit einem Euro und ein grosses Bier mit fünfzig Cent vergütet wird (aber nur, wenn es frisch gezapft war und vom Wirt persönlich an den Tisch gebracht wurde). Nach dem zwölfwöchigen Lehrgang „Asiatische Küche“ konnte er das RLV um 50 Cent pro Gast und Vierteljahr erweitern, musste dafür aber immer ein Sushi-Buffet bereithalten.
Die Tabelle plausibler Koch-und Zapfzeiten, die über dem Herd hing, begegnete dem unzulässigen gleichzeitigen Benutzen von mehreren Herdplatten oder Zapfhähnen. In jede Frikadelle und in jede zweite Currywurst musste ausserdem die lebenslange Wirtnummer (LWNR) und die Betriebsstättennummer (BSNR) eingebrannt werden. Auch waren Fortbildungen zur preiswerten Kundensättigung vorgeschrieben, 250 Fortbildungsgabeln mussten in fünf Jahren nachgewiesen werden.
Der Wirt seufzte, Stein schaute verlegen in Richtung des Schildes „Planerfüllung ist unser Stolz“ und wich so dem Blick des Freundes aus. Er stopfte sich noch eine Gabel Spaghetti in den Mund und trank einen grossen Schluck Wein.
Bacchus blickte besorgt auf die nagelneue, edelstahlblinkende und sündhaft teure Friteuse. Er hatte gehofft, durch privat verkaufte Pommes frites sein karges Einkommen aufbessern zu können, erzählte er, und hatte der Bank in zähen Verhandlungen einen weiteren Kredit abgerungen. Jetzt hatte die Ernährungsagentur Pommes frites für 30 Cent pro Portion in den EBM aufgenommen und der Wirt durfte sie nicht mehr privat verkaufen. Schlimmer noch: er musste einen zweitägigen Qualitäts-Frittierlehrgang absolvieren, um die Friteuse überhaupt noch benutzen zu dürfen. Nun dokumentierte ein Farblaserdrucker die Friteusentemperatur minutenaktuell.
Stein warf einen Blick auf den mattschwarzen Schwipson-Drucker, der gerade unter leisem Pfeifen ein buntbedrucktes Blatt ausspuckte, dabei registrierte er auch die winzige Webcam, die auf den chromblitzenden Herd gerichtet war.
Hinter vorgehaltener Hand würde in Gastronomenkreisen vom Schicksal des Gastwirtes Arno Räuberspiess gesprochen, erzählte Bacchus weiter: er hätte – kurz vor dem Konkurs stehend – nur noch Käsebrötchen und stilles Wasser auf der Karte gehabt. Gleichzeitig hätte er gegen Bezahlung Rumpsteak, Riesengarnelen in Knoblauch und Maltwhisky angeboten. Die Agentur war sofort eingeschritten und hatte ihm die Lizenz entzogen. Nun ging das Gerücht um, Räuberspiess verkaufe heimlich Bratwurst am Baggersee, den Grill habe er in einem Kinderwagen versteckt. Er plane, in Hanoi einen Schnellimbiss mit deutschen Wurstspezialitäten zu eröffnen, falls er eine Ausreiseerlaubnis erhält.
Auch andere Gastronomen kämpften um die Existenz, berichtete Bacchus. Viele ganz normale Restaurants hatten die Öffnungszeiten auf zwei Stunden täglich begrenzt und boten nur noch ein liebloses Billigbuffet an. Andere hatten kurz entschlossen die Hälfte der Tische aus dem Gastraum entfernt. Bei besonders spezialisierten Betrieben wie dem Fischrestaurant „Seequalle“ und dem Nordkoreaner „Schadhaftes Lächeln“ musste man inzwischen ein halbes Jahr vorbestellen. Der Schwarzhandel mit Tischreservierungen blühte, besonders vor den Feiertagen. Andere hätten einfach aufgegeben und ihre Lizenzen an den Grossversorger „Kentucky quält Chicken“ zu Schleuderpreisen verkauft.
Ob er, Stein, sich so etwas vorstellen könne und was für einen Rat er als Akademiker und guter Freund habe?
Dr. Stein blickte verlegen auf den hochglanzpolierten Kachelboden. Soviel Verzweiflung, so ein ungerechtes System. In welche Machenschaften war sein Freund da hineingeraten? Diese ganzen Skurrilitäten waren ihm bisher gar nicht bekannt, allerdings ging er auch nie in Restaurants, sondern liess sich gelegentlich von einer Versorgungskette eines dieser standardisierten Menüs gegen Vorlage der Gastrocard nach Hause liefern, so wie es vom Ernährungsministerium empfohlen wurde. Aus dem Prospekt, der jedes Mal mitgeliefert wurde, lächelten ihn immer glückliche Hühner, zufriedene Köche und wohlgenährte Kunden an. Als MVZ-Mitarbeiter erhielt er auch noch Punkte auf die Knautschlandcard gutgeschrieben, denn sein Arbeitgeber, die Zentralkrankenkasse, gehörte wie „Kentucky quält Chicken“ dem international operierenden Konzern „United health and food company“.
Er wusste nicht, was er seinem Freund Bacchus raten sollte. Solche Zustände waren ja in der Medizin gar nicht denkbar, niemals würden solche Zustände im Gesundheitswesen geduldet.
Stein griff nach der Flasche auf der Spüle, die mit dem Emblem der Ernährungsagentur verziert war (Weizenähre mit Sichel gekreuzt), und schenkte sich noch ein Glas „Pelzzüngiger Blauschädel“ ein…
(Mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. C. Scholber)