Mit Erlaubnis des Kollegen dokumentiere ich seinen offenen Brief an Herrn Seehofer und empfehle ihn zur allgemeinen Lektüre. Der Text ist beim Buschtelefon auch als pdf verfügbar.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Seehofer,
ich gehöre zwar nur zum von Ihnen so bezeichneten „Ärztepack“ und nicht zur Krawatte-tragenden Funktionärskaste, möchte aber trotzdem versuchen, Ihnen auf Realschul-Niveau zu erklären, warum Sie plötzlich mitten im Heimatland der Christlich Sozialen Union von einem Mob aus wütenden Basis-Ärzten und Helferinnen empfangen werden:
- Mit dem „EBM 2000 plus“ wurde vor einigen Jahren erstmalig ein betriebswirtschaftlich kalkuliertes Honorarsystem für die Ärzte in Deutschland entwickelt. Neben den Betriebskosten der Praxen wurde ein Stundenlohn für die Ärzte in Höhe eines damaligen Klinikfacharzt-Gehaltes kalkuliert. Auf der Basis eines Punktwertes von 5,11 Euro-Cent (10 Pfennige) wurden die typischen Leistungen der verschiedenen Fachgruppen über ein Punktesystem in Relation zueinander gebracht.
- Für die Politik hatte die Beitragssatzstabilität der gesetzlichen Krankenkassen absoluten Vorrang vor einer adäquaten Bezahlung der Ärzte. Deshalb wurde der Punktwert der zur Verfügung gestellten Geldmenge angepasst. Bei uns Urologen lag der Punktwert zuletzt bei 2,5 Cent, obwohl aufgrund der Inflation und der inzwischen deutlich gestiegenen Gehälter der Klinikärzte mindestens 6,2 Cent gezahlt werden müssten, um für einen adäquaten Stundenlohn zu sorgen. Nur 40% der Leistung wird bezahlt. Bei einem durchschnittlichen Betriebskostenanteil von 60% erzielen die Ärzte somit seit Jahren im Kassenbereich ein negatives Einkommen, müssen also die GKV durch Erlöse von Privatpatienten oder IGEL quersubventionieren.
- Weil die Kassenärztliche Vereinigung als Überbleibsel der Nazi-Diktatur jeglicher Druckmittel beraubt ist und den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts hat, war diese gezwungen, den Mangel möglichst gerecht zu verteilen, statt für eine angemessene Erhöhung der Gesamtvergütung sorgen zu können.
- Um ihrem Sicherstellungsauftrag gerecht zu werden, hat die KV versucht, die unzureichende Geldmenge so zu verteilen, dass vermeintlich „wichtige“ Bestandteile der ärztlichen Arbeit höher bewertet wurden - zu Lasten der übrigen Leistungen. Nicht immer ist es dabei gerecht zugegangen. Der Einfluss bestimmter innerärztlicher Lobbyisten konnte sich im unüberschaubaren Punkte-Dickicht häufig durchsetzen.
- Die aktuelle Gesundheitsreform hat durch den bundeseinheitlichen Punktwert (BOP) und die Umrechnung in eine Euro-Gebührenordnung (B€GO) die seit Jahren bestehende Unterfinanzierung schlagartig transparent gemacht. Das Gemauschel mit gestützten Punktwerten in bestimmten Bereichen zu Lasten anderer wurde abgestellt und jedem Vertragsarzt ist jetzt bereits im Vorfeld bekannt, wie wenig er für seine Arbeit bekommt. Insoweit hat Ulla Schmidt Wort gehalten.
Sie werden es nicht glauben, aber sehr vielen Ärzten waren die oben geschilderten Zusammenhänge bisher nicht klar.
Beseelt von der Überzeugung als Arzt allen Menschen helfen zu müssen, bestärkt durch die tägliche Anerkennung durch dankbare Patienten, hingehalten durch immer neue Versprechungen „In der Zukunft wird alles besser“ und nicht zuletzt aufgrund des Zeitmangels bei einer 70 – 80 Stundenwoche haben viele meiner Kollegen nur noch die Gesamtsumme ihrer Einnahmen kontrolliert und jegliche betriebswirtschaftliche Vernunft außer Acht gelassen. Aufgerüttelt allenfalls durch gelegentlich unangenehme Abmahnungen ihrer Bank oder durch Steuerberater, die diesen Namen tatsächlich verdienen. Zusätzlich gewährte Darlehen haben die drohende Insolvenz immer weiter verschleppt.
Seit dem 1.1.2009 ist alles anders.
- Die bisherigen „Vornewegärzte“, die mit gestützten Punktwerten ein relativ bequemes Leben führen konnten, werden durch den BOP schlagartig auf das Niveau der „Restärzte“ heruntergeholt.
- Das nicht einmal kostendeckende Regelleistungsvolumen (RLV) schockt die Kollegen, weil sie sich vorher nie die Mühe gemacht hatten, ihr reales Einkommen zu berechnen. Tatsächlich ändert sich bei vielen der „Brutto-Fallwert“ kaum gegenüber früher. Beispiel Urologie: Bisher wurden von vielen Urologen durchschnittlich 1.200 RLV-relevante Punkte x 2,5 Cent = 30 Euro pro Fall im Quartal erzielt. Seit 1.1.09 werden bei einem BOP von 3,5 Cent maximal 800 Punkte vergütet. Das RLV beträgt 28 Euro, das entspricht einem Minus von „nur“ 6%.
Der wesentliche Unterschied ist, dass jetzt jeder schwarz auf weiß vor Augen hat, dass tatsächlich nur diese erbärmlichen 28 Euro für 3 Monate urologische Facharztarbeit vergütet werden.
Darin enthalten sind z.B. alle Ultraschalluntersuchungen, Blasenspiegelungen, Prostatabiopsien, Katheterwechsel, Versorgung von Krebspatienten, Hausbesuche, Beratungen und Arztbriefe.
Obwohl sich für die Mehrheit der Ärzte real also gar nicht sooo viel geändert hat, bricht aufgrund der jetzt unübersehbaren Diskrepanz zwischen Leistung und Lohn der Sturm der Entrüstung los.
KV-Funktionäre, die sich seit Jahren in die Materie eingearbeitet haben, sind meistens „betriebsblind“. Der Sinn für die Realität – Fachärzten für 3 Monate Arbeit weniger zu bezahlen, als eine Damenfrisur kostet – wurde durch jahrelanges jonglieren mit Punktemillionen völlig vernebelt. Darum ist Herr Axel Munte jetzt von den massiven Protesten der Ärzte so völlig überrascht, wo er doch eigentlich „alles richtig“ gemacht hat, nach seiner Logik.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich meine die folgenden Ratschläge sehr ernst und empfehle Ihnen sich Gedanken dazu zu machen, auch wenn sie nur von einem einfachen Landurologen kommen:
- Sie können das Rad nie wieder zurückdrehen. D.h. die lange überfällige Transparenz, was die erbärmliche Honorierung unserer fachärztlichen Leistung betrifft, kann nie wieder durch ein Punktesystem verschleiert werden.
- ALLE Fachärzte sind jetzt aufgewacht und werden eine Bezahlung unter dem Niveau eines Damenfriseurs nicht mehr hinnehmen.
- Sie sind als einer der Architekten des jetzigen planwirtschaftlichen Systems mitverantwortlich für die Folgen dieser Politik. Die CSU kann sich nicht darauf hinausreden, dass Gesundheitspolitik in Berlin gemacht wird.
- Sie können entweder über den Gesundheitsfond ausreichende Steuer-Milliarden in das marode Sachleistungssystem pumpen. Wie weiter oben berechnet, sind mit den momentan ca. 528 Millionen Euro pro Quartal für die KVB etwa 40% der ärztlichen Leistungen bezahlt. Es wäre für Bayern also ein Steuerzuschuss von ca. 3 Milliarden Euro pro Jahr notwendig, um allen Ärzten einen Punktwert von 6,2 Cent zu bezahlen, bzw. die RLVs entsprechend anzuheben. Bei Urologen wäre das RLV dann z.B. 70 Euro. Zum Vergleich: Die AOK hält 80 Euro RLV für Hausärzte für angemessen. Diese Forderung ist also keinesfalls überzogen.
- In meinen Augen sehr viel vernünftiger wäre es, einen grundsätzlichen Systemwechsel herbeizuführen. Die von Ihnen Anfang der 90er Jahre ins Gesetz geschriebenen Bedingungen im Fall eines kollektiven Zulassungsverzichts der Ärzte (sog. Korbmodell) würden es binnen weniger Monate ermöglichen, in Bayern ein Kostenerstattungssystem nach dem Vorbild Frankreichs zu etablieren. Dazu wären keine Gesetzesänderungen nötig, sondern nur ein Signal der CSU, dass dieser Weg der Fachärzte toleriert wird.
Auf ein mittelfristiges Konzept der CSU, das nach der Bundestagswahl 2009 umgesetzt würde, können wir Fachärzte nicht warten.
Wenn nicht JETZT SOFORT gehandelt wird, werden entweder tausende Facharztpraxen binnen weniger Monate insolvent, oder – was ich eher vermute – es bricht eine leicht anarchistisch angehauchte Revolution los. Die Frauenärzte zeigen bereits diese Woche, wie das aussehen kann.
Mit freundlichen Grüßen aus Herzogenaurach
Tom Henschel
www.herzo-uro.de
www.bbu-eg.de
Früher waren Ärzte noch Ärzte. Irgendwann verwandelten sie sich qua Gesetz in "Leistungserbringer". Dann wurden Geiselnehmer daraus. Hier und da griffen Heißsporne unter Kollegen sogar zu obsoleten Begriffen wie "Sportpalast", wenn es um die Diskreditieru
Aufgenommen: Jun 08, 22:37