Der Spiegel berichtet (thx SuMu) über eine Studie, nach der das Ergebnis psychiatrischer Begutachtungen in Rentenverfahren mehr oder weniger vom Wohlwollen des jeweiligen Gutachters abhängen soll. 18 von 22 Gutachtern beurteilten eine offenbar wegen ihrer depressiven Erkrankung als erwerbsunfähig einzustufende, fiktive Patientin als arbeitsfähig.
In der Zeitschrift Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, in der diese Studie veröffentlicht wurde, wird das Ergebnis so kommentiert:
Was die vorliegende Untersuchung zeigt ist, dass für sozialmedizinische Schlussfolgerungen offenbar ähnliches gilt wie für Richterurteile: „Auf offener See und vor Gericht ist man in Gottes Hand”.
Ausserdem wird kritisiert, dass bei der betreffenden Problemlage aus grundlagenwissenschaftlichen Überlegungen keine einheitlichen Urteile, sonder nur Tendenzurteile bzw. probabilistische Aussagen möglich seien. In der Studie werde fälschlicherweise suggeriert, es gebe eine Gutachterobjektivität. Ebenso werde fälschlicherweise suggeriert, dass die fehlende Übereinstimmung zwischen Gutachtern ein Spezialproblem des psychiatrisch-psychosomatischen Fachs sei.
Die Studie selbst wird folgendermaßen zusammengefaßt:
Die Untersuchung liefert erste Daten zur Reliabilität psychiatrischer Gutachten. 22 Gutachter kamen zu einer heterogenen Beurteilung eines fiktiven Falles mit rezidivierender depressiver Störung. Bei Stellung der ICD-10 Hauptdiagnose werden verschiedene Diagnosen genannt. Die sozialmedizinische Formularbegutachtung bedeutet für die fiktive Versicherte, dass 8 Kollegen die medizinischen Voraussetzungen für jede Rentenzahlung für unangemessen halten, vier eine Erwerbsunfähigkeit und zehn eine Teilerwerbsminderung als gegeben ansehen. Im Gegensatz zu verbreiteten Vorurteilen über „lasche” psychiatrische Gutachter erwies sich diese Stichprobe als „hart” im Urteil. Die hohe Variabilität der Ergebnisse der Begutachtung ist für Versicherte ein unbefriedigender Umstand.
Jedenfalls habe das weit verbreitete Vorurteil über „lasche” psychiatrische Gutachter widerlegt werden können.
Kritisiert wird zudem, dass die Empfehlungen in „Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung” für affektive Störungen gerade mal 4 Seiten umfassen, davon ist eine halbe Seite den depressiven Störungen gewidmet (263 Wörter). Diese könnten ausführlicher gefasst werden. Einem Bemühen um validere und reliablere Befunderhebung stünden leider begrenzte Ressourcen gegenüber, und die Bezahlung der Gutachten wurde überwiegend als unangemessen gering eingeschätzt. Mittelfristig werde an einer regelmäßigen Schulung der Gutachter und einem Bemühen um mehr Objektivität kein Weg vorbeigehen.
Mein persönlicher Eindruck als Gutachter beim Sozialgericht legen die Vermutung nahe, dass die Beurteilung unter anderem davon abhängen könnte, ob ein Gutachter Teile seines Einkommens aus Auftragsgutachten für die Rentenversicherung bezieht, und dass die Rentenversicherung "zu lasche" Gutachter nicht mehr bei der weiteren Auftragsvergabe berücksichtigen könnte. Ähnliches unterstelle ich auch in anderen Bereichen, etwa bei der Beurteilung der Reisefähigkeit von abzuschiebenden Asylanten, oder etwa bei der Versorgungsverwaltung. Aber, wie gesagt, das sind meine persönlichen Eindrücke und Vermutungen, die keineswegs die Qualität einer Studie haben.
Dennoch vertrete ich die Ansicht, dass ein Gutachter in seiner Entscheidungsfindung wirklich frei und weisungsunabhängig sein sollte.
J. R. M. Dickmann, A. Broocks: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren - wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiatr 2007; 75: 397-401
In dem Artikel kam die Frage in den Kommentaren auf, »wie sieht ein Depressiver aus, kann man Depressionen sehen?« Interessante Frage, ein gebrochenes Bein sieht man, wenn jemand einen Gips hat, an Krücken geht und eine Röntgenaufnahme dies...
Aufgenommen: Okt 05, 11:34