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Neulich im MVZ (5)

Dr. Stein und die Kammer des Schreckens

Dr. Stein blickte den Patienten Alfred Schulz voller Mitleid an. So vital und eine Pflegebedürftigkeit vorprogrammiert – ein Jammer. Aber die Entscheidung von Wintriage 2010 [1] war eindeutig: Mitte Siebzig, keine verwertbare Arbeitsleistung mehr, also keine neue Hüfte. Und am Ergebnis war nicht zu rütteln, schliesslich war die Software von der Bundesärztekammer (BÄK) entwickelt und zertifiziert worden.

Vor einem halben Jahr hatte das Volksgesundheitsministerium endlich dem Drängen des BÄK-Präsidenten nachgegeben und hatte die Zuteilung der knappen finanziellen Mittel ganz in die Hände der Ärzte gelegt: seit April waren nun die Ärzte der Klinikkonzerne für das finanzielle Globalbudget zur Gesunderhaltung der Bürger verantwortlich und mussten priorisieren. Jetzt lief in der EDV verpflichtend immer Wintriage 2010 im Hintergrund, wenn nach Stecken der elektronischen Gesundheitskarte eine Leistungsanforderung oder ein Rezept an die Serverfarm übermittelt werden sollte.

Das Bankenstabilisierungsgesetz im Rahmen des Paktes für soziale Gerechtigkeit vom November 2009 hatte die Situation noch verschärft: zehn Prozent der Krankenkassenbeiträge wurden seitdem zur Stützung international operierender Banken eingesetzt. Nun gab es nach dem achtzigsten Geburtstag keinen Herzschrittmacher mehr.

Stein dachte wehmütig an die Zeit zurück, in der man dies alles noch abwenden wollte. Proteste gegen Rationierung und gegen die Gesundheitskarte hatte es ja reichlich gegeben, doch seit der Fortschreibung der großen Koalition nach dem knappen Wahlergebnis im September 2009 war es still darum geworden.

Im Sommer 2009 hatte Stein seine Stelle im ZK(Zentralkrankenkasse)-MVZ gekündigt, weil es Gerüchte um eine Schliessung des MVZ wegen Abrechnungsbetrugs gegeben hatte. Mit Abrechnung hatte er selbst niemals etwas zu tun, aber das Angebot der Headhunter im Auftrag der Spessart Klinken AG war verlockend genug. Nun arbeitete er 30 Stunden in der Woche im Klinik-MVZ als Allgemeinmediziner. Da die drei Orthopäden der Klinik im Schichtdienst rund um die Uhr im OP standen, musste er auch die orthopädischen Fälle betreuen. Also sass jetzt der Patient Alfred Schulz vor ihm.

Etwas ratlos sah er den Patienten an. Eine neue Hüfte kam ja nun nicht mehr in Frage. Analgetika und Krankengymnastik? Die Statistikfunktion der EDV zeigte ihm, dass es auch hier knapp würde – ein deutlicher Warnhinweis wies auf eine Überschreitung der Budgets hin. Eine Reha-Massnahme? Reha - wozu? Eher eine Kur. Sollte er das Formular 60 ausfüllen und zur Krankenkasse schicken, um dann das Formular 61 zu erhalten? Aber warum – auch beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen lief Wintriage 2010 im Hintergrund.

Stein war entnervt. Schliesslich hatte Alfred Schulz ein Vierteljahr auf seinen Orthopädentermin im Spessart-MVZ gewartet und hatte 50 Kilometer Anreise auf sich genommen. Niedergelassene Orthopäden gab es ja kaum mehr, seit die Quartalspauschale die Mietkosten der Praxis nicht mehr deckte. Gesundheitsökonomen hatten gefordert, Anreize gegen die Erbringung von Leistungen zu schaffen, und so war es dann umgesetzt worden.

Stein blickte auf seinen Computermonitor und registrierte das Fenster mit der Belegungsstatistik der Spessartklinik. Zwei freie Betten in der Abteilung für konservative Orthopädie blinkten mahnend. „Soviel stationär wie möglich – so viel ambulant wie nötig“ hatte das nicht der Trainer der Spessart Kliniken AG auf der Pflichtfortbildung „Krankheitsepisoden optimal nutzen“ gesagt?

Er druckte die Krankenhauseinweisung und schickte den Patienten zwei Räume weiter zur stationären Aufnahme.

(Mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. C. Scholber)

[1] Das Programm Wintriage enthält das Spezialmodul FunktionärExcept (FE). Entsprechende Sozialdaten, namentlich im SozialpolitVita-Modul auf Wunsch des mit dem Kennzeichen "FE" ausgestatteten Antragstellers auszufüllen, erlauben unter den Ausnahmeoptionen Partei+, VdK +, KK+, Verdi+ und einigen anderen Features, die Triageschwellen zu senken. Realisiert wird dies durch eine Änderung der "Altersfuß-Kennzahl" (AFK).

Der Zugang zum Spezialmodul Funktionärexcept steht nur besonders hochrangigen und gedienten Mitarbeitern der ZK (Zentralkrankenkasse) sowie assozierter Institutionen und Konzerne (Spessart, Äskulapum) zur Verfügung. Der MdK hat hier keine Zugriffsrechte. Sämtliche autorisierte und nicht-autorisierte Leistungserbringer (LE) haben sich vertraglich zu Stillschweigen über das System verpflichtet, sofern sie es überhaupt kennen. (Es wird kolportiert, dass sich ein solcher Stillschweigevertrag bereits einmal während der Testphase der Gesundheitskarte bewährt hatte, die später die Umwandlung von Ärzten in LE ermöglichte).

Die Wichtelsmann-Stiftung achtet über entsprechende Medienkontakte eines verbundenen Konzerns streng darauf, dass über etwaige Ungleichbehandlungen durch FunktionärExcept nichts ans Licht der Brot- und Spiele-Öffentlichkeit  kommt. Nur Politiker, die auf der Wichtelsmann-Referentenliste stehen, dürfen an FunktionärExcept teilhaben. Bei guter Führung.

(Technische Erläuterungen von Dr. Wieland Dietrich)

Löschen statt sperren!

Der momentane Regierungsvorschlag zur Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten ist imho völlig ungeeignet, das Problem tatsächlich zu lösen. Ich verstehe nicht, warum die entsprechenden Seiten nicht gelöscht werden, statt sie nur mit einem Warnhinweis zu versehen und den Zugriff an das BKA melden zu lassen:

Christian Bahls: „Das ist genau dasselbe, was in Familien passiert, wenn ein Missbrauch passiert. Das wird einfach geleugnet, da wird dem Kind nicht geglaubt, da wird eben lieber anstatt einer Verfolgung – wird eben lieber ein Mantel darüber gelegt, und genau das ist hier der Fall. Die Regierung vollzieht im Großen nach, was im Kleinen in einer Familie passiert, in der Missbrauch geschieht.“

In einem zehnminütigen Fernsehbeitrag (Zapp, 20.5.2009) werden die Argumente gegen einen bloßen Warnhinweis nachvollziehbar dargestellt (Volltext).

Zur ergänzenden Information ein paar Links:


The online doctor rating system has a shocking lack of useful information

Don't even bother with Web-based doc-rating systems. - By Kent Sepkowitz - Slate Magazine

The Web is awash with sites eager to give you the inside dope on your physician. With a single click, you can find out how your internist or surgeon rates against colleagues in his field, what the patients are saying behind his back, if the office staff is chipper, whether malpractice lawyers have him in their sights. This seems the perfect way to resolve an age-old fear far more important than whether that HDTV cuts the mustard: Does my doctor actually suck?

Eine antizyklisch wirkende Unternehmensstrategie im Gesundheitssektor

NachDenkSeiten - Die kritische Website » Rhön-Klinikum AG setzt auf neue Privatisierungswelle

Der Vorstand und Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG haben beschlossen, die wegen der sinkenden Steuereinnahmen erwartete finanzielle Enge der Kommunalen Körperschaften für eine Offensive zu nutzen – wie schon bei der Rezession 2002/2003. Darauf macht Hermann Zoller im folgenden Beitrag aufmerksam. Die Eigner der privaten Betreiber sind zugleich die Profiteure der systematischen Verarmung der öffentlichen Hände.
Bitte helfen Sie in Ihrer Kommune, den Widerstand gegen diesen fortgesetzten Wahnsinn zu organisieren. Albrecht Müller

Aufsichtsratsmitglieder sind u.a. Prof. Karl Lauterbach MdB und Brigitte Mohn, Tochter von Bertelsmann Mohn.

Rationierung als Glaubensfrage

Parallel zum Leistungserbringertag fand der evangelische Kirchentag statt. Auch dort wurde über Rationierung, Rationalisierung, knappe Kassen und Überkapazitäten diskutiert.

Verbraucherschützer schließen sich Kritik der Ärzte an - Handelsblatt.com

„Ökonomisch motivierte Entscheidungen müssen sein“, erläuterte die Berliner Ärztin Jeanne Nicklas-Faust, die eine Studie zur Sicht der Mediziner erstellt hat. Ärzte, die jedoch Patienten aus Kostengründen nicht behandeln wollten, „haben das System nicht verstanden.“ Die Durchschnittsentgelte seien nur ein Richtwert und sollten nicht die exakten Kosten einer Therapie decken. Wenn die Behandlung eines Patienten besonders teuer sei, könnte ein Arzt das dadurch ausgleichen, indem er danach mehrere kostengünstigere Patienten annehme.

Hm. Natürlich kann ich mir als Arzt Leistungserbringer teure Behandlungen leisten, indem ich zum Ausgleich "zahlreiche kostengünstige Patienten annehme". Was aber mache ich mit den restlichen kostenintensiven? Wegschicken? Irgendwie scheint Frau Nicklas-Faust selbst das System nicht zu verstehen. Ist ja auch schwierig...

Dann fand ich noch dieses Zitat, das Bischof Huber zugeschrieben wird:

Zur Sicherung des Gesundheitssystems sollten nach Ansicht des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, vor allem Doppelausgaben vermieden werden. Es sei «ein absolutes Gebot der Gerechtigkeit, zuallererst Rationalisierungsreserven zu heben, bevor man an Rationierungen geht», sagte Huber am Samstag beim Evangelischen Kirchentag in Bremen. Laut Experten entfalle ein Fünftel der Gesundheitsausgaben auf Doppeluntersuchungen, unnötig teure Medikamente und ähnliche Maßnahmen.

Da sind sie wieder, die Doppeluntersuchungen. Und was sollen eigentlich "Gesundheitsausgaben" sein? Bisher machte Huber doch keinen dämlichen Eindruck... Man sollte ihn fragen, welche "Experten" ihm da etwas eingeflüstert haben. Immerhin konstatiert er zwei Sätze weiter, es gebe im Gesundheitssystem «undurchschaute Rationierungen». Damit meint er möglicherweise die heimliche Rationierung, die in Deutschland schon seit Jahren exekutiert wird.

Das Ende der Ärztetage

Der 112. Deutsche Ärztetag ist am Ende.

Präsident Hoppe hat es als vermeintliches Aushängeschild der Ärzte geschafft, ein zweifellos wichtiges Thema so in die Öffentlichkeit zu drücken, dass sich keiner darüber aufregt, dass wir (Ärzte und Patienten) schon seit Jahren eine, von der Politik vorsätzlich herbeigeführte, heimliche Rationierung erdulden. Als derzeit einzigen Erfolg seiner Bemühungen kann ich nur erkennen, dass sich viele darüber aufregen, was für verkommene Drecksäcke in barbarischer Tradition Ärzte doch sind.

Die Mehrheit der Delegierten des Ärztetages hat am 20.5.2009 Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung aufgefordert, die Voraussetzungen für eine generelle Einführung des Kostenerstattungsprinzips zu schaffen. Das offizielle Mitteilungsblatt verlor darüber kein Wort, ließ aber am 22.5.2009 verlauten, dass der Beschluss wieder aufgehoben worden sei. Zur Erläuterung hieß es unter anderem, die Delegierten hätten bei der Abstimmung wohl nicht genug nachgedacht, und man könne von Patienten keine "Vorleistung" beim Arzt erwarten (davon war auch nie die Rede).

Schließlich stimmten die Delegierten des Ärztetages heute mehrheitlich - und im dritten Jahr in Folge - gegen die Einführung der "Gesundheitskarte". Die Bundesärztekammer machte daraus: "Der Deutsche Ärztetag hat sich für die Fortführung einer konstruktiv-kritischen Arbeit an der elektronischen Gesundheitskarte ausgesprochen."

Frau Schmidt kann sich freuen, solche Verbündeten zu haben.

Die nächste Vollversammlung des höchsten Ärzteparlaments sollte folgerichtig in "Leistungserbringertag", Herr Hoppe in "Bundesleistungserbringerkammerpräsident" umbenannt werden, damit keine Zweifel mehr daran aufkommen, dass sich Ärzte in Deutschland mittlerweile in anderer Form organisieren. Müssen. Sonst wiederholt sich die Geschichte mit den Drecksäcken.

Der Vorstand der Bundesärztekammer will die Gesundheitskarte abnicken

Ärzte brauchen Augen und Ohren, Herz und Verstand, um Leben zu retten. Manchmal brauchen wir auch ein Haushaltsgerät. Aber diesen Stunt hier, den soll mal einer mit der "Gesundheitskarte" nachmachen. Für sowas braucht man keine Telematik-Infrastruktur oder disease-manager, sondern diagnostischen Durchblick, ärztliche Kunst, und die Unterstützung der Patienten bzw. ihrer Angehörigen.

Verwaltet euch schön weiter, aber lasst bloß die Finger von Menschen...

Ach ja: einen Fuß haben wir schon in eurer Tür. Nicht mehr lange, dann zeigen wir euch, wo der Bohrhammer hängt.

Eine Angstdebatte können wir nicht gebrauchen

In Deutschland wütet derzeit die Schweinegrippe, und in Feldlazaretten müssen Millionen Infizierte behandelt werden. Ministerin Schmidt zieht es daher vor, ins Ausland zu verreisen. Sie hat nicht etwa Angst davor, von einer Rotte wildgewordener Schweine Ärzte zur Sau gemacht zu werden. Möglicherweise hat man ihr geraten, sich schnell in Deckung zu begeben, bevor die Umfragewerte der SPD noch weiter in den Keller rutschen. Das wird nichts nützen, springt doch Deutschlands faulster Abgeordneter gern in die kommunikative Bresche.

Lauterbach meint, im deutschen Gesundheitswesen gebe es keinerlei Rationierung, die Ärzte sollten sich lieber weiterbilden und sich solidarisch gegenüber der kränkelnden Wirtschaft verhalten - schließlich seien sie die größten Profiteure der Krise.

Was hatte sein Missfallen erregt?

Der Präsident der Bundesärztekammer, Hoppe, hatte die Politik scharf angegriffen: sie täusche die Bürger über die Sparzwänge, verspreche immer noch eine umfassende Versorgung für alle. Leider sei die "heimliche Rationierung" längst Realität.

Das wollen Politiker im Wahlkampf, Kassenfunktionäre und manche Journalisten nicht wahrhaben. Eine Angstdebatte können sie natürlich nicht gebrauchen...

Frau Schmidt findet die Diskussion über heimliche Rationierung aus der Entfernung "menschenverachtend". Dabei hatten Ärzte doch nur die zunehmende Rationierung medizinischer Leistungen kritisiert und eine offene Debatte über die Leistungsmöglichkeiten des Gesundheitswesens gefordert.

Kassenfunktionäre finden die Diskussion "unverantwortlich", "absurd", verkennen die Realität, und manche wollen lieber gar nicht darüber diskutieren. Es droht ja gar keine Rationierung!

Natürlich droht keine Rationierung. Es gibt sie bereits.

Aber das ist selbst hochkritischen JournalistInnen nur schwer zu vermitteln. Die schreiben zwar munter drauflos: "Es ist ja heute schon so, dass Kassenpatienten mit nicht so akuten Beschwerden auf einen Termin beim Hautarzt oder Orthopäden ewig warten müssen und viele Dinge schon selbst zu bezahlen sind." Und stoßen im nächsten Satz hervor: "Bevor aber rationiert wird, sollten teure Doppeluntersuchungen vermieden werden."

Seufz. Es ist hoffnungslos.