Warum?
Gute und sinnvolle Produkte setzen sich am Markt allein durch. Wenn mir was zu vertretbarem Preis und Aufwand die Arbeit erleichtert - her damit.
Die Einführung einer von Bürokraten ersonnenen, mit dem Workflow in der Praxis schwer zu vereinbarenden und mit Pseudoargumenten ("Doppeluntersuchungen!"; pdf via NAV) vermarkteten Bananensoft- und Hardware muss wohl durch strenge gesetzliche Auflagen mit Strafzahlungen herbeigezwungen werden. Ohne mich.
TI heißt "Telematik-Infrastruktur". Auf der Homepage der gematik steht:
"Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens ist eines der größten IT-Projekte Europas. Das Ziel ist die Optimierung der Gesundheitsversorgung von 70 Millionen Menschen. Teil dieses ehrgeizigen und anspruchsvollen Projekts zu sein, ist ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses und der Motivation der rund 300 hoch qualifizierten Mitarbeiter der gematik."
Und:
"Die Telematikinfrastruktur vernetzt alle Akteure und Institutionen des Gesundheitswesens miteinander und ermöglicht dadurch einen organisationsübergreifenden Datenaustausch innerhalb des Gesundheitswesens."
Klingt verlockend. Nach underwear gnome economics.
Vorläufig schließe ích meine Praxis trotzdem nicht an dieses System an - auch wenn wenn ich damit gegen das Gesetz verstoße. Dafür werde ich nach §291 SGB 5 Abs. 2b mit Honorarabzug bestraft: ich kann nämlich ohne Anschluss keinen Versichertenstammdatenabgleich machen.
Warum werde ich zum Gesetzesbrecher?
Ich arbeite seit 1995 digital. Ich nutze ein zertifiziertes Praxisverwaltungssystem mit elektronischer Karteikarte, in der alle Befunde, der Verlauf, alle Medikamente, Diagnosen, Daten von Krankenhausaufenthalten und Arbeitsunfähigkeitszeiten, eingescannte Fremdberichte, eigene Berichte an Kranke Kassen, Medizinischen Dienst, Arbeitsagentur, Jobcenter, Rentenversicherung, Versorgungsverwaltung gesammelt werden.
Das nennt man eine arztgeführte Patientenakte. Auf die habe nur ich Zugriff. Sie ist passwortgeschützt und liegt auf einem verschlüsselten Datenträger. Diese Akte gehört mir, aber wenn Sie bei mir in Behandlung sind, können Sie eine Kopie Ihres Datensatzes bekommen (es steht nichts drin, was Sie nicht ohnehin schon wissen). Ich komme damit meiner ärztlichen Dokumentationspflicht nach.
Die Digitalisierung, die ich seit 1995 lebe, erleichtert meine Arbeit ungemein:
Krankenversichertenkarte einlesen, Rezepte und Formulare drucken, eine Arzneimitteldatenbank, mit der ich den Preis und bestehende Rabattverträge erkennen und einen Interaktionscheck machen kann - händisch würde das Tage bis Wochen dauern.
Ich habe schnell einen Überblick über den Verlauf der letzten Monate und Jahre und kann ihn nach variablen, persönlichen Kriterien sortieren und filtern (handschriftlich könnte ich vieles vermutlich nicht mehr entziffern). Ich kann aus der elektronischen Karteikarte innerhalb von zwei Minuten einen aussagekräftigen Arztbrief (an Hausärzte, Krankenhäuser) oder Befundberichte (für Behörden) oder Atteste (für Ihren eigenen Gebrauch) zusammenstellen.
Ich kann meine Abrechnung und die Buchhaltung mit wenigen Mausklicks erledigen.
Das lasse ich mir einiges kosten. Der Hersteller des Systems kriegt einen niedrigen vierstelligen Betrag im Jahr für regelmäßige Updates und die Systempflege. Den Support habe ich aber bisher kaum in Anspruch nehmen müssen.
Jetzt kommen wir zur Telematik-Infrastruktur und zu meiner wohlüberlegten Verweigerung. Welchen konkreten Anreiz habe ich denn, mich jetzt an dieses System anzuschließen?
Ein finanzieller Anreiz bestand bis Juni 2019. Bis dahin bestand die Möglichkeit, die Anschaffungs- und Investitionskosten für den Konnektor (einen Router; pdf der gematik) und ein neues Kartenlesegerät erstattet zu bekommen (es waren so um die 4.000 Euro; pdf der KBV).
Üblicherweise frage ich mich bei solchen Summen ernsthaft: brauche ich das wirklich? Als mein letztes Notebook abgeraucht war, habe ich nicht lange gezögert und Ersatz gekauft. Der Bedarf war einfach da.
Wegen der TI riefen mich noch bis zum Spätherbst regelmäßig Telefonverkäufer an, die mir den deal schmackhaft machen wollten. Ich habe mich gefragt, ob das nicht unzulässige Vorteilsannahme oder sogar Bestechung wäre, bin aber diesbezüglich nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen.
Was meinen Bedarf angeht: was bietet mir denn die TI zurzeit konkret? Brauche ich die TI oder braucht die TI mich?
Ich kann einen Versichertenstammdatenabgleich machen. Duh.
Die verwegene Idee einiger Verwaltungsbürokraten, Verwaltungsaufgaben an Ärzte auszulagern, ist einfach genial. Sie deckt sich nur nicht mit meinem Bedarf und ich bin dazu unterqualifiziert. Ich bin nur Arzt. Wenn ich Stammdaten abgleichen wollte, wäre ich SoFa geworden.
Übrigens: meine Software enthält eine regelmäßig aktualisierte Liste mit ungültigen Karten. Wenn Sie also auf die Idee kommen, mit einer abgelaufenen Karte hier aufzuschlagen, gibt's einen Hinweis an Ihre kranke Kasse und für Sie eine Behandlung auf Rechnung. Kommt hier aber kaum vor, weil wir uns ja meistens schon einige Jahre kennen.
Also: das VSDM ist kein ausreichender Anreiz, mich kaufen zu lassen.
War sonst noch was?
- Das elektronische Rezept, vielleicht. Soll irgendwann mal kommen. Und wenn dann Wohnheime Rezepte für 30 Patienten anfordern? Kommen die dann alle mit den Karten hierher? Wahrscheinlich werde ich parallel weiter Papierrezepte drucken. BTM-Rezepte sowieso. Den Medikationsplan mit eingebautem Wechselwirkungscheck hab ich schon. Und bei einer automatischen Medikationserinnerung würden einige meiner Klienten noch paranoider reagieren. Ich warte mal ab, wie sich das entwickelt.
- Die elektronische AU, vielleicht. Nee, soll ja eine Erleichterung für Arbeitgeber und Kranke Kassen werden, nicht für mich. Ich muss das zusätzlich machen. Klingt auch nicht nach einem attraktiven Angebot für mich.
- Die elektronische Patientenakte? Ist für Sie als Patient (noch) freiwillig und Sie entscheiden, was drin steht und wer es haben darf. Ist für mich damit eine entweder unvollständige oder eine unüberschaubare Datenmenge oder beides. Muss ich mir mal ansehen, wenn es fertig ist. Als Beta-Tester von Bananensoftware sehe ich mich nicht.
- Datenlieferungen an Kranke Kassen und andere Interessierte nach §287 SGB 5 (pseudonymisiert, versteht sich)? Gut für Forschungs- und Marketingzwecke, sicher im Interesse der Allgemeinheit, aber weder für mich im Alltag relevant noch neu: diese Daten zirkulieren längst (§ 295 SGB 5). Künftig womöglich in Echtzeit.
Ich bin zwar technikaffin, aber ich kaufe kein Zeugs, das ich nicht irgendwie brauchen kann. Unterm Strich ist die Strafzahlung - diese Drohung mit einem empfindlichen Übel ist übrigens nur deswegen keine Straftat, weil sie im SGB steht - billiger als die Anschaffung.
Vor allem, wenn man die möglichen Konsequenzen bedenkt:
"Nach Kenntnis der Bundesregierung wurde bisher keine Datenschutzfolgenabschätzung für die Telematikinfrastruktur durchgeführt."
Keine Datenschutzfolgenabschätzung?
Kein Konnektor in meiner Praxis (siehe DSGVO Artikel 26, 82 und 83), zumal die Ausgabe von Versichertenkarten, Arztkarten und Konnektoren sagen wir mal störanfällig ist.
Darum bleibt meine Praxis vorläufig TI-frei.