Mit elektronischen Routinedaten die Patientenversorgung verbessern

Interview mit Professor Dr. Michael M. Kochen, Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin der Georg-August-Universität Göttingen

Herr Professor Kochen, unter Ihrer Federführung laufen verschiedene Forschungsprojekte in der Allgemeinmedizin. Wo besteht Ihrer Meinung nach Optimierungsbedarf in den Hausarztpraxen?
Eine gute elektronische Dokumentation der Patientenakten ist eine Voraussetzung dafür, dass der Arzt seine Patienten optimal versorgen kann. Hier ist das Potenzial informationstechnologischer Lösungen noch nicht voll ausgeschöpft. Im Verbundprojekt „Medizinische Versorgung in der Praxis“ (MedVIP) haben wir daher Lösungen realisiert, die die elektronische Routinedokumentation in der hausärztlichen Praxis nutzen und verbessern und die es ermöglichen, Module für Zusatzdokumentationen zu integrieren. Allgemeinmediziner sehen täglich viele verschiedene Patienten mit sehr unterschiedlichen Beschwerden. Kein Arzt benötigt solch ein breites Wissen wie die Hausärzte. Hilfreich sind daher Strategien, die es ihnen erleichtern, Patienten mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Krankheiten rechtzeitig und zuverlässig zu erkennen – sogenannten Case-Finding-Strategien.

In einem Forschungsprojekt über Osteoporose haben Sie diese Case-Finding-Strategien in hausärztlichen Praxen erprobt. Was verbirgt sich dahinter?
In diesem Teilprojekt ging es darum, Knochenbrüche durch Osteoporose bei Frauen ab 60 und Männern ab 70 Jahren mithilfe eines Risikoprofils zu verhindern. Bei diesem komplett elektronischen Studienansatz ermittelt ein speziell entwickeltes, auf den Praxiscomputern installiertes Programm alle Patienten mit diesen Alters- und Geschlechtsmerkmalen. Diese werden dann automatisch in einem Befragungssystem gespeichert und beim nächsten Praxisbesuch vom Praxispersonal anhand eines standardisierten Online-Fragebogens zu ihren Osteoporoserisiken befragt. In den Fragen geht es unter anderem um bestehende Gesundheitsprobleme und Krankheiten sowie um Ernährungsgewohnheiten und die Einnahme von Medikamenten. Im Anschluss an die Befragung erhält der Hausarzt eine Behandlungsempfehlung, die den gültigen Leitlinien entspricht.


Wie profitieren die Patienten von der technischen Ausweitung der Praxis-EDV?
Da die erhobenen Daten in der Praxis-EDV gespeichert werden, kann der Arzt jederzeit auf die Ergebnisse zugreifen und die Patienten gezielt und direkt nach der Befragung beraten. Auf ein eventuell vorhandenes erhöhtes Osteoporoserisiko erfolgt also sofort eine weiterführende Diagnostik oder eine Behandlungsstrategie. Einer Patientin mit einem hohen Risikoprofil kann er beispielsweise eine Knochendichtemessung empfehlen, Ernährungsratschläge geben oder Medikamente verordnen. Dies sollte sich langfristig positiv auf das Frakturrisiko auswirken.

Welche konkreten Nutzen können elektronische Datenerhebungen darüber hinaus für Hausarztpatienten haben?
Die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Patienten sollte bei medizinischen Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen. Bei der Zulassung von Medikamenten wird das bereits aufgegriffen. Im medizinischen Versorgungsalltag fehlen jedoch systematische Erhebungen dazu, ob und wie stark sich Erkrankungen auf die Lebensqualität auswirken. Das gilt vor allem für chronisch Kranke. Wir haben daher in einem weiteren Forschungsprojekt elektronische Fragebögen zur Lebensqualität von Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen entwickelt, die die Betroffenen selbstständig im Wartezimmer ihres Hausarztes auf kleinen tragbaren Lebensqualitäts-Recordern ausfüllen. Zwischen diesen sogenannten Tablet-PCs und der Praxis-EDV findet per Funkverbindung ein Datenaustausch statt, sodass der Arzt die Ergebnisse der Befragung gleich auf seinem Rechner sieht und gegebenenfalls Therapieanpassungen vornehmen kann.

Wie haben Patienten und Ärzte die elektronische Befragung angenommen?
Von beiden Seiten gab es sehr positive Reaktionen. Die Patienten kamen mit den Computern gut zurecht. Sie benötigten keinerlei Vorkenntnisse am Computer, da die Handhabung eines Tablet-PCs mit dem Stift dem Ausfüllen eines Papier-Fragebogens ähnelt. Knapp 90 Prozent der Patienten aus der Studie würden auch zukünftig gern elektronische Fragebögen zu ihrer Lebensqualität in der Hausarztpraxis ausfüllen. Rund zwei Drittel der befragten Patienten meinen, dass diese Ergebnisse für die Planung ihrer Behandlung hilfreich sind. Auch die teilnehmenden Ärzte würden es begrüßen, Befragungen zur Lebensqualität routinemäßig in der Praxis weiter einzusetzen und beurteilten den Nutzen der Befragungen im Praxisalltag als gut. Wir konnten damit erstmals in deutschen Hausarztpraxen zeigen, dass sich computerisierte Erhebungsmethoden dazu eignen, wesentliche Informationen zum Befinden der Patienten systematisch und praxistauglich zu erheben, automatisch auszuwerten und unmittelbar für die Nutzung im Arzt-Patienten-Gespräch bereitzustellen.