Missing Link: Adorno und der neue Rechtsradikalismus

Theodor W. Adornos Vortrag über die NPD von 1967 bietet erstaunlich aktuelle Erklärungen des Erfolgs heutiger rechter Gruppen wie der AfD und ihrer Propaganda.

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Missing Link: Adorno und der neue Rechtsradikalismus

Aufmarsch von Rechtsradikalen in Polen

(Bild: Shutterstock)

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 50 Jahren starb der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno in den Schweizer Bergen. Zu seinem Todestag hat sein Verlag ein Büchlein unter dem Titel "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" veröffentlicht. Es ist das Transkript einer Rede, die Adorno am 6. April 1967 in Österreich gehalten hat. Sie ist in der österreichischen Mediathek verfügbar und ganz bemerkenswert. In seinem Vortrag vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs erklärte Adorno den kometenhaften Aufstieg der rechtsradikalen NPD, die 1964 gegründet worden war und Zug um Zug in die Parlamente westdeutscher Bundesländer einziehen konnte. Den Einzug in den Bundestag schaffte sie jedoch nicht – im Unterschied zur heutigen AfD, auf die der Text von 1967 jetzt umgedeutet wird.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Zahlreiche Besprechungen rühmen nun zur Veröffentlichung des Textes die "Kraft der Vernunft" und die bestürzende Aktualität des Vortrages angesichts einer AfD, die wortwörtlich wie die NPD vor über 50 Jahren gegen die "Kulturmarxisten" vom Leder zieht. Auch Adornos Charakterisierung des manipulativen Charakters der damaligen Parteiführer, "die gleichzeitig kalt, beziehungslos, strikt technologisch gesonnen, aber ja in gewissem Sinn eben doch irre sind", weist Parallelen zur heutigen Zeit mit den Auftritten des "rechten Flügels" unter Björn Höcke auf. Das erklärt, warum das Büchlein jetzt ein Bestseller wird und in die fünfte Auflage geht. Taugt "Teddy" Adorno als Erklärbär für die neuesten neuen Rechtsradikalen?

Der Vortrag von Adorno ist mehr als eine Erzählung dessen, was 1967 in Deutschland abläuft. Inhaltlich knüpft er an Adornos längeren Aufsatz "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" von 1959 an, in dem er erklärt, wie wenig die Zeit des Nationalsozialismus verdaut ist und was alles aufgearbeitet werden müsste. Damals wollte Adorno explizit nicht auf neonazistische Organsisation eingehen, sondern schrieb: "Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so ungeheuerlich war, daß es am eigenen Tode noch nicht nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern."

Das Fortwesen in den Menschen unter den Verhältnissen, die sie umklammern, ist das Thema, das Adorno in seinem Wiener Vortrag erklärt. Diese Erklärung, warum die NPD solch einen Erfolg in Westdeutschland hat, ist in den Kontext der Kritischen Theorie eingebettet, die am Frankfurter Institut für Sozialforschung unter Theodor Adorno, Max Horkheimer und Friedrich Pollock zunächst im US-amerikanischen Exil, dann im Nachkriegsdeutschland entwickelt wurde. Sie ist in aller Kürze ein Gemisch aus Marxscher Theorie, Freudianischer Psychoanalyse und amerikanischer Soziologie. Zentraler Begriff der Kritischen Theorie ist der Begriff der autoritären Persönlichkeit bzw. der "autoritätsgebundenen Persönlichkeit", wie es Adorno in seinem Vortrag formuliert, um Missverständnisse zu vermeiden. Denn es geht nicht um einen autoritären Aufseher, sondern um die Dispositive der Menschen, die sich einem Appell an eine Autorität unterordnen und sich gegenüber anderen Gruppen wertüberlegen fühlen und schließlich diese Überlegenheit bedroht sehen. Aktuell sei hier das völkische Phantasma vom "großen Austausch" benannt, das in der AfD unter dem Stichwort "Umvolkung" Zustimmung findet.

Mit einer Studie zum autoritären Charakter unter dem Titel "Autorität und Familie" hatte das Institut für Sozialforschung 1936 in Frankfurt begonnen und sie später nach der Emigration in den USA fortgeführt. "Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt", heißt es im Vorwort der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Das Ergebnis war eine vom American Jewish Committee finanzierte Studie zum autoritären Charakter, die nachwies, dass auch die Menschen in den USA für Nationalismen empfänglich sind und dass die "Anfälligkeit für faschistische Propaganda weniger mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen per se zusammenhänge, sondern dass solche Meinungen als Reaktionen auf psychische Bedürfnisse zu verstehen, Ausdruck einer bestimmten, der autoritätsgebundenen Charakterstruktur seien."

Wie dieser Charakter bei der NPD zu Tage tritt, versucht Adorno im Vortrag seinen Zuhörern zu erklären. Die Anhänger der NPD sahen sich als Verlierer und suchten nach Schuldigen für diese Situation. Dazu gehört für die neuen Rechten schon 1967 die Überfremdung durch Gastarbeiter, die sie beklagen und von denen immer neue Taten kolportiert werden. Als weiteres Beispiel nennt Adorno die von der NPD genannten völlig übertriebenen Augleichszahlungen an Israel. Auch das Hantieren mit herbeigeredeten aufgehäuften Daten, die Autorität erzeugen sollen, sieht er als Teil der Propaganda des Rechtsradikalimus von 1967. Die völlig frei erfundenen Daten sind, wie heute die angeblichen Migrantentumulte im Freibad aber nur das, was man heute "Fake News" nennt. Auch die NPD-Forderung, dass endlich Schluss sein müsse mit dem "ewigen Gerede" von der Schuld des deutschen Volkes, gehört für Adorno dazu. Dies findet seine Entsprechung bei der heutigen Sicht auf den Nationalsozialismus als "Vogelschiss" in der Geschichte der Deutschen, wie es der AfD-Vorsitzende Gauland formulierte.

Die Kritische Theorie war indes auch ein fernes Erbe der marxistischen Theorie und hier gibt es sehr wohl Unterschiede zwischen 1967 und heute. Der Kapitalismus ist für Adorno ein zerstörerischer Prozess, wie seine Anmerkungen über das deutsche Wirtschaftswunder zeigen, das er in seinem erwähnten Aufsatz "Aufarbeitung der Vergangenheit" analysiert: "Noch inmitten der Prosperität, selbst während des temporalen mangels an Arbeitskräften fühlt insgeheim wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen sich als potentielle Arbeitslose, Empfänger von Wohltaten und damit eben erst recht als Objekte, nicht als Subjekte der Gesellschaft: das ist der überaus legitime und vernünftige Grund ihres Mißbehagens." Zum Missbehagen gesellt sich beim neuen Rechtsradikalismus das Misstrauen in neue Wirtschaftsstrukturen: "Also, soweit es sich um das agrarische Potential des Rechtsradikalismus handelt, ist die Angst vor der EWG und den Konsequenzen der EWG für den Agrarmarkt hier sicher außerordentlich stark", erklärt Adorno den Studenten die deutliche Europafeindlichkeit der Rechten.

Adorno redet unbefangen vom Kapitalismus und der "Konzentrationstendenz des Kapitals", die für den anschwellenden Nationalismus verantwortlich ist, was ihm manch heutiger Rezensent ziemlich übel nimmt. Diese Tendenzen münden für den Vor-68er in der "Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewußtsein nach durchaus bürgerlich waren" und ihren Klassenstatus verbessern wollen. Sein Vortrag beginnt darum mit einer Ohrfeige für die damalige Volkspartei SPD, einer Partei, die alle "Potentiale einer Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die in der klassischen Marxischen Theorie gelegen waren", aufgegeben hat. Die SPD von 1967 verkennt für ihn, was "das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit" im "Zeitalter der Automatisierung" mit den Menschen macht. So gesehen ist der Erfolg der Rechtsradikalen ein Ausdruck der Krise und der sozialen Katastrophe, nur eben in verzerrter Weltsicht – und eine Bankrotterklärung der SPD.

Damit ist die besondere Stärke des Vortrages angesprochen. Adorno verdammt nicht einfach die Ansichten der neuen Rechtsradikalen, sondern weist darauf hin, dass "keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie dabei tritt und daß das Kunststück der Gegenwehr wesentlich ist, den Mißbrauch auch der Wahrheit für die Unwahrheit aufzuspießen und dagegen sich zu wehren." Für Adorno ist es ganz wesentlich, dass die Ideologie des "lunatic fringe" ("Narrensaum") bruchstückhaft ist und mit einer Salami-Taktik arbeitet, wenn etwa die Zahl der ermordeten Juden Stück für Stück kleingeredet wird. "Also, es wird etwa mit der pseudowissenschaftlichen Pedanterie, die diesen Bewegungen eigentümlich ist, an der Zahl der ermordeten Juden gezweifelt," bis es am Ende "geradezu umgekehrt gewesen wäre." Ein aktuelles Beispiel für diese These veröffentlichte die tageszeitung: Zum 50. Todestag wollte die Stadt Frankfurt eine Gedenktafel an dem Haus anbringen, in dem Adorno in Frankfurt die meiste Zeit gelebt hat. Der Eigentümer weigerte sich, weil seine Familie dem Rückkehrer Adorno eine Entschädigung für das Haus zahlen musste, das sie günstig nach der Flucht der "Juden" erworben hatte (Adorno war wie seine Mutter katholisch und wechselte später zum Protestantismus).

In der Frage der Abwehr des neuen Rechtsradikalismus gibt der Redner weit weniger Ratschläge als in der Analyse, doch warnt er die Wiener Studenten vor der "Hush-Hush-Taktik", Argumente der Rechtsradikalen einfach totzuschweigen oder gar die Propaganda zu ignorieren. Man müsse vielmehr die Massen gegen die Tricks der Propaganda impfen unter der Voraussetzung, dass niemand gerne für dumm verkauft wird. Hier findet sich der ungebrochene Glaube an die Kraft der Auflkärung durch unideologische Wahrheiten. Niemand will gut österreichisch die Wurzen sein, so Adorno. "Und daß das Ganze auf eine gigantische psychologische Wurztechnik, auf einen gigantischen psychologischen Nepp herausläuft, das ist wohl durchaus zu zeigen."

Die Massen gegen die Tricks der Propaganda impfen unter der Voraussetzung, dass niemand gerne für dumm verkauft wird.

(Bild: Shutterstock)

Zum Schluss gibt der Intellektuelle aus Deutschland seinen Zuhörern mit auf den Heimweg, dass er auf die "durchschlagende Kraft der Vernunft" setzt, auf die Kraft der wirklich unideologischen Wahrheit, die immer von allen erzählt werden muss, die die Zustände ändern wollen. Er ermahnt die Studenten, nicht Fragen über die "Zukunft des Rechtsradikalismus" zu stellen. Für einen aktiven Demokraten gehört sich so etwas nicht. In genau diesem Sinne ist der Adorno von 1967 wirklich unverändert aktuell: "In dieser Art des Denkens, die solche Dinge von vorneherein ansieht wie Naturkatastrophen, über die man Voraussagen macht wie über Wirbelwinde oder über Wetterkatastrophen, da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet, es steckt darin ein schlecht zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit." Wie die Dinge weitergehen, bestimmen die handelnden Subjekte, die sich gegen den Rechtsradikalismus in all seinen Formen stellen. (tiw)