Große Datenanalyse: Erhöhtes Todesrisiko für Kinder und Jugendliche unter hochdosierten Antipsychotika

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

4. Januar 2019

Kinder und Jugendliche, die Antipsychotika der 2. Generation in hohen Dosierungen erhalten, sind möglicherweise einem erhöhten Mortalitätsrisiko ausgesetzt. In einer retrospektiven Analyse in den USA war die Zahl unerwarteter Todesfälle bei jungen Patienten, die „off Label“ Antipsychotika in Dosen von mehr als 50 mg einnahmen, um das 3,5-Fache erhöht im Vergleich zu Patienten, die diese Medikamente nicht einnahmen. Die Studienergebnisse sind online in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry erschienen [1].

„Sollten sich die beobachteten Zusammenhänge als kausal erweisen, wäre immanent wichtig die Sicherheit der Verschreibung antipsychotischer Medikamente für die mehr als eine Million junger Patienten in den USA, die diese Therapien jährlich erhalten, zu verbessern“, schreiben die Autoren um Dr. Wayne A. Ray, Vanderbilt University School of Medicine, Nashville, Tennessee, USA.

 
Ich befürworte die indizierte und zurückhaltende Gabe von Antipsychotika. Prof. Dr. Marcel Romanos
 

„Eine spannende Untersuchung“, findet Prof. Dr. Marcel Romanos, Leiter des Zentrums für Psychische Gesundheit an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Würzburg. Diese Medikamente seien „nicht unproblematisch“, sagt er im Gespräch mit Medscape. „Ich befürworte die indizierte und zurückhaltende Gabe von Antipsychotika.“

Prof. Dr. Marcel Romanos

Zulassungsüberschreitende Anwendung häufig

Antipsychotika, die vor allem psychische Symptome wie Wahn oder Halluzinationen reduzieren und die Reizaufnahme hemmen, werden allerdings auch in Deutschland häufig „off Label“ für nicht zugelassene Indikationen, etwa Depressionen, bipolare Störungen oder ADHS verschrieben. Die starken Psychopharmaka haben oft multiple und bisweilen schwere dosisabhängige Nebenwirkungen. Ob diese Nebenwirkungen, die oft kardiovaskulärer oder metabolischer Natur sind, insbesondere unter jungen Patienten, zu mehr Sterbefällen führen, war bislang unklar.

In einer retrospektiven Kohortenstudie haben Ray und Kollegen in einer Datenbank des US-Versicherers Medicaid fast 250.000 Kinder und Jugendliche aus Tennessee zwischen 5 und 24 Jahren, die eine Therapie mit Antipsychotika begonnen hatten, mit denen verglichen, die ein anderes Medikament für die gleiche Indikation erhalten hatten.

Bei den Kindern und Jugendlichen war weder eine schwere körperliche Erkrankung noch ein Tourette-Syndrom, eine Schizophrenie oder eine ähnliche Psychose diagnostiziert worden. Für letztere psychische Erkrankungen gibt es bislang keine Behandlungsalternative zu Antipsychotika. Anhand von Sterbeurkunden wurden unerwartete Todesfälle bei 3 Patientengruppen untersucht:

  • 30.120 Patienten, die Antipsychotika in hoher Dosierung von mehr als 50 mg Chlorpromazin-Äquivalenten erhalten hatten

  • 28.377 Patienten, die Antipsychotika in niedriger Dosierung von 50 mg Chlorpromazin-Äquivalenten oder weniger erhalten hatten

  • 189.361 Patienten, die keine Antipsychotika erhalten hatten, sondern Antidepressiva, Stimmungsaufheller oder Medikamente gegen ADHS (Kontrollgruppe). Bis zu 3 Medikamente gleichzeitig waren erlaubt.

In der Niedrigdosis-Gruppe nahmen die meisten Patienten Risperidon (66%); die häufigsten Antipsychotika in der Hochdosis-Gruppe waren Quetiapin (34%), Aripiprazol (23%) und Olanzapin (17%).

 
Die Botschaft dieser Studie: Eine Verschreibung antipsychotischer Medikamente nicht auf die leichte Schulter nehmen. Prof. Dr. Marcel Romanos
 

Mehr Todesfälle unter Hochdosis-Behandlung

Nach der Abgleichung für andere Einflussfaktoren war das Mortalitätsrisiko unter Patienten in der Hochdosis-Gruppe um 80% höher als bei Patienten, die andere Psychopharmaka einnahmen. Das Risiko unerwarteter Todesfälle stieg in dieser Gruppe signifikant um das 3,5-Fache im Vergleich zur Kontroll-Gruppe.

„Solche Todesfälle sollten bei jungen Patienten ohne somatische Erkrankungen selten auftreten“, bemerken die Autoren. Noch deutlicher unterschied sich das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko; mit einer Hazard Ratio (HR) von 4,29 in der Hochdosis- im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Im Gegensatz dazu war das Sterberisiko aufgrund von Verletzungen oder Suizid nicht erhöht. Ebenfalls zeigte sich kein signifikanter Anstieg der Todesfälle in der Niedrigdosis-Gruppe. Da die allgemeine und besonders die kardiovaskuläre Sterberate insgesamt niedrig waren, müsse dieses Ergebnis in größeren Studien reproduziert werden, um verlässliche Aussagen treffen zu können, bemerken die Autoren.

Es falle auf, dass die Patienten in der Hochdosis-Gruppe mehr affektive Störungen, etwa Depression, bipolare Störung oder Angststörung, aufwiesen als die in der Kontrollgruppe bemerkt Romanos. Er ist auch Vorstandsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP).

Zudem waren in dieser Gruppe mehr Kinder und Jugendliche mit verminderter Intelligenz, suizidalen Tendenzen, Autismus, Alkoholmissbrauch sowie selbst- und fremdzerstörerischem Verhalten. „Ich habe den Eindruck, dass es sich um eine psychiatrisch schwerer betroffene Klientel handelte. Antipsychotika verschaffen diesen Patienten oft Linderung.“

Das liefere jedoch noch keine Erklärung für die erhöhte Todesfallrate.

Versteckte Suizide unter Antipsychotika?

Erkrankungen, etwa des Herzens, die komplex behandelt werden müssen, bemerkt Romanos. Diese Umstände könnten ebenfalls zur erhöhten Sterbefallzahl beitragen, so seine Vermutung. Man solle also nicht den Schluss ziehen, „dass Kinder nur durch diese Medikamente einem dramatisch höheren Risiko ausgesetzt sind“. Denn aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine psychiatrisch und körperlich komplex belastete Gruppe handle, sei „das erhöhte Risiko wahrscheinlich auch auf die Grunderkrankung zurückführbar“.   

Es sei jedoch richtig und problematisch, dass Antipsychotika auch in Deutschland „bei diesem komplizierten Patientenklientel relativ breit eingesetzt werden“. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit aggressivem Verhalten stellen sie eine Möglichkeit zur Impulskontrolle dar.

Jedoch erreichen die Verordnungsquoten antipsychotischer Medikamente in Deutschland noch lange nicht das Niveau wie in den USA und den Niederlanden, wie eine  2017 veröffentlichte Vergleichsstudie zeigt. In den Niederlanden nahmen 1% der Kinder und Jugendlichen bis 19 Jahre Antipsychotika ein; in den USA 0,8% und in Deutschland 0,3%.

 
Die Botschaft dieser Studie: Eine Verschreibung antipsychotischer Medikamente nicht auf die leichte Schulter nehmen. Prof. Dr. Marcel Romanos
 

„Es ist gut, dass diese Medikamente in Deutschland vorsichtiger und zurückhaltender verschrieben werden als in den USA“, sagt Romanos. In der Studie von Ray et al. war ADHS (64%) die häufigste Diagnose bei der Verordnung antipsychotischer Medikamente.

In der Tat werden diese Medikamente häufig zur Impulskontrolle verordnet bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS plus einer Affekt-Regulationsstörung, erklärt Romanos. „Sie helfen Kindern mit explosiver Persönlichkeit, die leicht ausflippen, aber nicht, indem sie ADHS behandeln, sondern die Impulskontrolle verbessern.“

Individuelle Dosierungsanpassung, regelmäßige Kontrollen

„Die Botschaft dieser Studie: Eine Verschreibung antipsychotischer Medikamente nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern genau überlegen, bevor eine Empfehlung dafür ausgesprochen wird.“ Zudem müssen sich Kinder und Jugendliche unter dieser Medikation regelmäßigen Kontrolluntersuchungen mit EKG, Gewichtskontrolle und Blutuntersuchungen unterziehen.

Bei den Kontrollen müsse auch geprüft werden, ob die Indikation für die Medikation noch gegeben sei. „Ich sehe oft, dass eine Medikation, die einmal angesetzt wurde, nie wieder abgesetzt wird, ohne, dass eine Prüfung der Indikation erfolgt“, kritisiert Romanos.

In der US-Studie wurden zahlreiche Patienten mit 2 und einige sogar mit 3 Medikamenten therapiert. „Bei Kindern und Jugendlichen sollte die Gabe von Psychopharmaka möglichst als Monotherapie erfolgen“, mahnt Romanos. „Je mehr gemischt wird, desto gefährlicher die Nebenwirkungen.“

Um nicht zu über- oder unterdosieren empfiehlt er ein therapeutisches Drug Monitoring (TDM) mit einer Bestimmung des Arzneistoffspiegels im Blut zur Ermittlung der individuell optimalen Dosis. „Generell besteht bei Kindern ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen, jedoch auch etwa aufgrund des schnelleren Stoffwechsels die Gefahr, dass eine zu niedrige Dosis gar nicht wirkt“, erklärt Romanos. 
 

Kommentar

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