Herr Butter, 2008 tauchte im Internet ein Papier von Satoshi Nakamoto auf, in dem er zeigt, wie mit dem Bitcoin an den Zentralbanken vorbei weltweit Geld ausgetauscht werden kann. Wer Nakamoto ist, weiß bis heute niemand. Allerdings gibt es eine Theorie: Hinter Nakamoto steckt die NSA, die im Bitcoin-Code eine Hintertür versteckt hat, um die Zahlungsströme weltweit zu verfolgen. Sie kann so unbemerkt Revolutionäre in aller Welt finanzieren.
Michael Butter: Das hört sich für mich nach einer klassischen Verschwörungstheorie an. Da gibt es eine sinistere Gruppe im Hintergrund, die alles über Jahrzehnte hinweg geplant haben soll. Die breite Masse versteht das natürlich nicht, nur einige wenige Erleuchtete haben verstanden, was die Verschwörer vorhaben. Und sie argumentieren „von hinten“, wie Verschwörungstheorien das immer tun. Die NSA spioniert uns alle aus, wie wir seit 2013 wissen, ihr muss somit alles Böse zugetraut werden, also muss sie auch hinter dem Artikel fünf Jahre vorher stecken.
Glauben Sie nicht, Sie tun das zu leicht ab? 1997 haben drei Mitarbeiter der NSA einen Artikel zu Kryptowährungen verfasst, der findet sich immer noch online. Sie verweisen darin auf die Gefahren von Digitalwährungen. Was läge näher als eine eigene aufzubauen und so die Kontrolle zu bewahren?
Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie Verschwörungstheoretiker argumentieren. Sie gehen davon aus, dass die Beweise auf der Hand liegen, sie müssen nur ausmachen, wer hinter der Verschwörung steckt. Wer die erste Seite der Suchtreffer bei Google durchforstet, findet diesen Artikel. Im nächsten Schritt unterstellen die Verschwörungstheoretiker, dass die gesamte NSA homogene Interessen verfolgt und an einem Strang zieht. Verschwörungstheoretiker können sich gar nicht vorstellen, dass es Mitarbeiter der NSA gibt, die anderen Tätigkeiten nachgehen als die drei besagten Mitarbeiter. In ihrer Vorstellung agiert die NSA wie ein Monolith. Es gibt auch keine Zufälle oder Unabwägbarkeiten in ihrer Welt. Nur mithilfe solcher Annahmen können Menschen glauben, dass ein 20 Jahre alter Artikel beweist, dass alles von langer Hand geplant ist.
Verschwörungstheorien gehen stets von der Prämisse aus, dass nichts so ist, wie es scheint. Zudem sind Verbindungen zwischen absolut disparaten Ereignissen charakteristisch. Gerade ging es nur um die Verbindung eines Papiers aus dem Jahr 2008 und den Snowden-Enthüllungen von 2013, jetzt kommt noch ein Aufsatz von 1997 dazu.
Zur Person
Michael Butter ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Bei Suhrkamp erschien 2018 sein Buch „Nichts ist wie es scheint – über Verschwörungstheorien“. Es hat 271 Seiten und kostet 18 Euro.
Nun hat Edward Snowden ja gezeigt, dass der NSA einiges zuzutrauen ist.
Diese Enthüllungen werten Verschwörungstheoretiker im Nachhinein oft als Beleg dafür, dass sich eine Theorie als wahr herausgestellt hat. Das ist Unsinn. Wer sich mit der NSA befasst hat, den dürften die Enthüllungen Snowdens nicht gewundert haben. Snowden hat lediglich gezeigt, dass die NSA alles tut, um die amerikanischen Interessen zu schützen. Das mag man gutheißen oder nicht – aber die Enthüllungen haben nicht offengelegt, dass die NSA irgendwelche geheimen Ziele verfolgte, von denen niemand etwas wusste.
Hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien zugenommen?
Wir haben heute den Eindruck, aber der trügt. Das Internet macht Verschwörungstheorien lediglich sichtbarer als das früher der Fall war. Die Zahl derer, die an Verschwörungstheorien glauben, ist aber heute weitaus geringer als noch vor 100 Jahren. Bis in die 1960er hinein galten Verschwörungstheorien in der westlichen Welt als völlig normal und unproblematisch und waren Teil des öffentlichen Diskurses. Eliten haben sie über Jahrhunderte bewusst gestreut – denken wir an die vermeintliche Kontrolle der Weltwirtschaft durch Juden. Das waren alles Verschwörungstheorien, die von oben gestreut wurden.
Was hat sich geändert?
Nach den verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs wanderten die Verschwörungstheorien langsam ab in die Subkulturen. Dadurch änderte sich dann auch die Stoßrichtung – zumindest in der westlichen Welt. Entsprechend richten sie sich nicht mehr nur gegen Schwache und Außenseiter, sondern sind ein Mittel von Leuten geworden, die sich marginalisiert fühlen oder Angst haben, marginalisiert zu werden. Solche Theorien dienen heute der Elitenkritik. Durch das Internet sehen wir nun die Kommunikation von Teil- und Gegenöffentlichkeiten, die wir vorher nicht wahrgenommen haben. Diese Sichtbarkeit führt zwar zu einer Zunahme derer, die an Verschwörungstheorien glauben – zumindest gemessen an der Zeit nach 1960. Verglichen mit 1918 oder 1818 ist die Zahl derer, die solchen Theorien anhängt, aber sehr gering.