Gesundheitssystem Krankenversicherte an der Schmerzgrenze

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Ärzte rationieren

Ärzte rationieren Leistungen bei den Kassenpatienten, wenn das Budget für das Quartal zur Neige geht Quelle: AP

Längst ist die Sparwelle bei den Kassenpatienten angekommen. Ärzte rationieren Leistungen, wenn das Budget für das Quartal zur Neige geht. „Untersuchungen müssen dann ins nächste Quartal verschoben werden, was für die Versorgung der Patienten nicht gut sein kann“, sagt Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV Virchow-Bunds für niedergelassene Ärzte.

Die Ärzte rationieren auch, weil sie erst nach Quartalsende erfahren, wie viel ihnen die Kassen tatsächlich zahlen. Das Gesamtbudget der Fachärzte einer regionalen Kassenärztlichen Vereinigung wird rückwirkend nach einem komplizierten Schlüssel auf die Praxen verteilt. Wie viel der einzelne Arzt bekommt, hängt also auch davon ab, wie viel die anderen geleistet haben. Wenn er Pech hat, reicht sein Anteil aus dem Topf der Kassen nicht aus, um die Kosten zu decken. Die Ärzte fahren ihr Budget daher auf Sicht und verschreiben Kassenpatienten eher weniger als mehr.

Siegen-Geisweid, Allgemein-Praxis Klock, Dienstag, 16.00 Uhr.

Die Werbeplakate fürs Impfen sind im Wartezimmer nicht zu übersehen. „Muss ich meinen Sohn noch mal gegen Keuchhusten impfen lassen?“, fragt eine Mutter. „Auf jeden Fall, zahlt auch die Kasse“, antwortet die Sprechstundenhilfe hinter dem Tresen.

Hausärzte impfen gern, weil es schnell geht und die Kassen einen festen Betrag zahlen – unabhängig vom Gesamtbudget. Weniger beliebt sind Leistungen, die Zeit kosten und wenig einbringen. „Bei Akupunktur zahle ich drauf“, sagt Hausarzt Klock. Die Kassen hätten das Honorar von 40 Euro schrittweise auf 15 Euro pro Behandlung gesenkt. Nadeln setzt Klock daher nur noch bei Privatpatienten.

Auch bei Medikamenten wird geknapst. Ärzte dürfen Kassenpatienten nur noch Wirkstoffe, aber keine Arzneien verschreiben. Apotheker wählen die günstigsten Medikamente, meist Nachahmerpräparate (Generika). Das ist sinnvoll, weil das Kassenbudget geschont wird, kann jedoch zu Problemen führen, wenn die günstigere Arznei weniger verträglich ist. Nur wenn der Arzt auf dem Rezept „aut idem“ („oder ein Gleiches“) ankreuzt, bekommen Patienten ein teureres Präparat. „Oft rufen Apotheker an, weil Patienten nicht das billigere Medikament wollen“, sagt Klock. Gibt er nach, fehlt ihm Geld für Medikamente anderer Kassenpatienten.

Der Kostendruck der Kassen führt zu absurden Ausweichmanövern. So deklarieren einige Ärzte Physiotherapie in Krankengymnastik um, wenn das Kontingent an Physiotherapien verbraucht ist

Gegen 18.30 Uhr knipst Klock das Licht aus, Feierabend hat er aber noch nicht. Einige Patienten sind so krank, dass sie es nicht in die Praxis schaffen. Ein Hausbesuch bei einer 70-Jährigen mit Darmgrippe steht noch an. „Kassen zahlen wieder mehr für Hausbesuche“, sagt Klock. 21,03 Euro darf er abrechnen, bei Privaten 42,90 Euro.
Privatversicherer mauern

Zwar dürfen PKV-Anbieter vertraglich zugesagte Leistungen nicht verweigern, sie können aber mehr oder weniger kulant erstatten. Seit einigen Jahren nehmen die Versicherer die Arztrechnungen der Privatpatienten stärker unter die Lupe. Die Beschwerden beim Ombudsmann der PKV haben seit 2007 um 50 Prozent zugenommen.

„Meist behaupten die Versicherer, dass die Leistungen medizinisch nicht notwendig seien“, sagt Rotraud Mahlo von der Verbraucherzentrale Niedersachsen. Ziel sei es, Leistungen zu rationieren. Privatpatienten sollten sich aber nicht einschüchtern lassen, sondern ihren Arzt bitten, die Behandlung schriftlich zu begründen. Meist lenkten die Versicherer dann ein.

Gegner mit harten Bandagen

Wer gegen Bescheide klagt, muss sich auf Gegner mit harten Bandagen einstellen. „Derzeit versuchen die Versicherer patientenfreundliche Urteile aus der Vergangenheit zu kippen“, sagt Nikolaos Penteridis, Fachanwalt für Versicherungsrecht. Streit gebe es vor allem bei älteren PKV-Tarifen, bei denen es keine Zuzahlungsgrenzen gebe. Neuere Tarife dagegen enthielten im Kleingedruckten meist feste Beträge, bis zu denen die Versicherung erstattete.

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