Die Big Brother Awards 2018: Von Windows 10, eHealth, Hessentrojanern und anderen Datenkraken

Dank der Telemetrie von Windows 10 hat Microsoft zum zweiten Mal einen Big Brother Award errungen. Doch auch unbekannte Firmen und ein ganz besonders smartes Konzept dürfen sich über den Negativpreis freuen.

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Die Big Brother Awards 2018

Illustration Datenkrake

(Bild: Heiko Sakurai)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Zur Stunde beginnt die Verleihung der Big Brother Awards im Bielefelder Stadttheater. Die vergnügliche Preis-Gala sollte im Livestream zu sehen sein, doch wer sich einen schnellen Überblick verschaffen will oder weiterführende Links sucht, der lese weiter. Spannend bleibt es bis zum Schluss, ob es denn Gewinner gibt, die den Preis vor Ort abholen. Eine der ersten Firmen, die nach Bielefeld kamen, war Microsoft im Jahre 2002, als Microsoft in der etwas seltsamen Kategorie "Lebenswerk" einen Big Brother Award für ihr Digital Rights Management namens Palladium bekam. Damals schickte Microsoft den Datenschutzbeauftragten Sascha Hanke, der das DRM-System verteidigte.

16 Jahre später ist es die Kategorie Technik, in der Microsoft glänzt. Im Betriebssystem Windows 10 gibt es eine ganze Reihe von Funktionen, die Daten an Microsoft übermitteln. Dementsprechend muss an einer ganzen Reihe von Schräubchen gedreht werden, wenn man die Datensammelwut von Windows 10 beherrschen will. Das gibt auch Microsoft in einem Privacy Statement zu. Gleichzeitig wendet sich der Software-Konzern gegen die Ansicht von Datenschutzbeauftragten, dass Microsoft die Datenübertragung in Windows 10 abschalten müsse. Nur dann dürfe Windows 10 in Behörden eingesetzt werden, eine Argumentation freilich, die selbst von betroffenen Behörden nur zu gerne ignoriert wird. Gegen die Datenübermittlung gewendet, fordert die Jury der Big Brother Awards von Microsoft mindestens eine Option "übermittele gar nichts" neben den Auswahlpunkten einer "einfachen" und einer "vollständigen" Datenübermittlung. Spätestens mit dem Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverodnung (DSGVO) müsse Microsoft dafür sorge tragen, dass "keine Übermittlung" eine Option ist, die standardmäßig aktiviert sein sollte, ansonsten würden Microsoft-Produkte zu einem nicht mehr tragbaren Problem, so die Laudatio, die Frank Rosengart vom Chaos Computer Club halten soll.

In ihrer Würdigung der Leistungen von Microsoft erinnert die Jury an den verstorbenen britischen Datenschützer Caspar Bowden, der bis 2011 bei Microsoft arbeitete und zwei Jahre vor Edward Snowden davor warnte, dass Geheimdienste umfassende Zugriffsmöglichkeiten auf Cloud-Daten haben und nur die US-Amerikaner ein bisschen Schutz vor dem Zugriff genießen, der Rest der Welt hingegen nicht. Gegen diese Übergriffigkeiten hat Microsoft selbst zusammen mit T-Systems als Treuhänder die Deutschland-Cloud in Betrieb genommen und hostet die Daten gegen Aufpreis nach deutschem Recht in Biere bei Magdeburg. Insofern könnte es spannend werden, wen Microsoft nach Bielefeld schickt, die durchaus widersprüchliche Position der Firma zu verteidigen.

In Aldous Huxleys Zukunftsroman Schöne neue Welt ist Soma eine stimmungsaufhellende Droge, die vor dem Sex eingenommen oder auch als Dampf verteilt wird, um negative Stimmungen und kritisches Denken in der Bevölkerung auszuschalten. Insofern gibt das deutsche Healthtech-Startup Soma Analytics schon im Namen zu erkennen, dass es sich mit Stimmungsaufhellern beschäftigt und dafür auch EU-Forschungsmittel erhalten hat. Herausgekommen ist eine Smartphone-App namens Keela Mental Resilence, die Stressdaten der Beschäftigten an ein Keela Dashboard überträgt, welches fortlaufend über den "Gemütszustand" eines Teams, das "Wohlbefinden" einer Abteilung oder gleich über das "Stresslevel" einer ganzen Firma informiert. Dafür gibt es einen Big Brother in der Kategorie "Schöne neue Arbeitswelt".

Für den Arbeitsrechtler Peter Wedde von der traditionsreichen Frankfurter Akademie der Arbeit begeht Soma Analytics mit der Übergabe von Gesundheitsdaten in die Hände von Arbeitgebern einen Tabubruch, auch wenn die Daten, wie Soma Analytics betont nur in aggregierter und anonymisierter Form vorliegen. Besonders bedenklich sei die Empfehlung der Stresserkenner, das Smartphone abends mit ins Bett zu nehmen, damit die Sensoren Daten über das Schlaf- und Beischlafverhalten sammeln können. In den rechtlichen Hinweisen der Firma fehle zudem eine zumindest in Deutschland notwendige Zustimmung der Beschäftigten nach dem noch geltenden Bundesdatenschutzgesetz wie nach der kommenden DSGVO. Die App Keela, mit der zahlreiche Daten zum Wohlbefinden oder zum Unwohlsein eingesammelt werden, reihe sich ein in die Klasse der Softwareangebote für Predictive Analytics, bei der Vorhersagen getroffen werden, die durchaus so konkret sein können, dass der Einzelne trotz Anonymisierung identifiziert werden kann. Grundsätzlich sei nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand eine App einsetzt, um Stress zu vermeiden oder zu verringern. Nur sollte die App nicht dem Arbeitgeber gehören.

Eigentlich sind die Grünen mit Experten wie Jan Philipp Albrecht eine Partei, die Bürgerrechte und den Datenschutz Ernst nimmt. Ausgerechnet in Hessen, wo Joschka Fischer in Turnschuhen das erste Mitregierungsprojekt einleitete, haben die Grünen vergessen, wofür sie stehen. Dank dem hessischen Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes bekommen die regierenden Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen einen Big Brother Award in der Kategorie Politik. Beide Parteien wollen, dass nicht nur die Polizei in der Strafverfolgung, sondern auch der Verfassungsschutz als Nachrichtendienst Hessentrojaner einsetzen darf, um verdächtige Gefährder mit Hilfe der Quellen-TKÜ und der heimlichen Online-Durchsuchung zu überwachen. Zusätzlich sollen erkannte Gefährder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verurteilt werden können, um künftige Straftaten zu entdecken. Neben diesen Bestrebungen zur Installation des Hessentrojaners soll der Verfassungsschutz künftig auch vorbestrafte V-Leute einsetzen und V-Leute im beruflichen Umfeld von Ärzten, Anwälten und Journalisten platzieren dürfen. Die Krönung schwarz-grüner Überwachungsphantasien ist die Erlaubnis, dass der Verfassungsschutz Daten von Kindern unter 14 Jahren speichern darf. Dazu passt dann der Einsatz des Nachrichtendienstes als Auskunftei, wenn die Überprüfung der Verfassungstreue bei Einstellung im öffentlichen Dienst ansteht: der Radikalenerlass der 70er Jahre lässt grüßen.

Als Laudator des Politikpreises kommt stilgerecht der Rechtsanwalt Rolf Gössner zum Einsatz, der seit eben diesen 70er Jahren vom Verfassungsschutz überwacht wurde. Während dieser Zeit wurde er sogar als Referent zu einer Tagung des hessischen Verfassungsschutzes eingeladen, zum direkten Erfahrungsaustausch zwischen Schnüfflern und Ausgeschnüffelten. Für Gössner ist es ein Unding, wenn die Grünen im hessischen Landtag behaupten, diese "Neuausrichtung des Verfassungsschutzes" würden eine "grüne Handschrift" tragen." Was nach dem Pannen und Skandalen bei der Aufdeckung der NSU-Mordserie zu einer Neuausrichtung führen sollte, ist zu einer umfassenden Blankovollmacht für den Ausbau des Geheimdienstes mutiert. "Doch stattdessen erhalten ausgerechnet diese demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimbehörden des Bundes und der Länder – geschichtsvergessen muss man sagen – wieder unverdienten Auftrieb, werden abermals aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher gemacht, anstatt die Bevölkerung endlich vor ihren klandestinen Machenschaften und Skandalen wirksam zu schützen," so das Fazit von Gössner.

Schutzlose Flüchtlinge und Asylbewerber werden mit Hilfe einer Software für das Quartiermanagement von Cevisio Software verwaltet. Sie werden dort wie Sachen behandelt und mit Hilfe von Chipkarten-Systemen dauerüberwacht, bis hin zur Essensausgabe oder der Teilnahme an angebotenen Aktivitäten. Begründet wird dies damit, dass man bei Ausbruch eines Feuers wissen müsse, wer sich aktuell in der Unterkunft aufhält. Träfe die Begründung zu, müsste jede Schule solche Systeme besitzen, so die Jury der Big Brother Awards 2018. Deshalb bekommt die Software, die Cevisio mit Unterstützung des Roten Kreuzes Sachsen entwickelt hat, einen Preis in der Kategorie Verwaltung, stellvertretend für eine ganze Reihe von Software-Programmen, die Daten über Flüchtlinge in ausufernder Weise speichern. Von der Chipkarte kontrollierte Bewegungen zum und auf dem Gelände und der Essenausgabe über medizinische Checks wie durchgeführte Röntgen-, Blut- und Stuhluntersuchungen bis hin zu Verwandtschaftsverhältnissen, Religions- und Volkszugehörigkeiten, all dies wird von der Software abgefragt und mit anderen Dateien nach dem "Datenaustauschverbesserungsgesetz" verknüpft, insbesondere mit dem 2016 eingeführten Kerndatensystem für Asylsuchende.

"Flüchtlinge sind Menschen, keine Sachen. Sie liegen nicht in einem Regal zur späteren Abholung und Verwendung, sie sind keine Gefangenen und bedürfen keiner verschärften Beobachtung. Sie suchen Schutz bei uns und haben Rechte – Menschenrechte und Grundrechte," so Laudator Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise. Besonders problematisch sei es, dass Cevisio als Softwarehersteller in seinen Unterlagen keinerlei Angaben zum Datenschutz der Daten von 380.000 Flüchtlingen mache, die aktuell von der Software verwaltet werden. Die in Torgau ansässige Firma wirbt mit dem Slogan "Software, die glücklich macht". Die Datenschützer können damit nicht gemeint sein und so fällt das "Lob" von Thilo Weichert besonders harsch aus, wenn er über die Verwaltung von traumatisierten Flüchtlingen urteilt: "Die Gefahr, dass wir bei der Datenverwaltung à la Cevisio bestehende Traumata vertiefen, und auch die Gefahr, dass unsere Datensammlungen in falsche Hände geraten, etwa von Geheimdiensten des Heimatlandes, ist groß. Auch Software-Unternehmen haben eine Verantwortung dafür, dass solche Gefahren gebannt werden. Wir sollten uns bewusst machen: Was heute an Flüchtlingen praktiziert wird, wird morgen vielleicht schon auf uns angewendet."

Richtige Smart Cities, in denen die Straßenlampen die Bürger beleuchten, ihnen bei Bedarf Strom Spenden und fürsorglich überwachen, sind noch ein Stück weit Zukunftsmusik. Doch das Konzept ist da und verdient einen Preis, vergeben in der Kategorie PR und Marketing. In Ländern wie China, Türkei und Aserbaidschan feilt man energisch an der Überwachungskomponente, während bei uns die Bewirtschaftung des Parkraums im Vordergrund steht. Doch die intelligente Stadt hat Zukunft, weil der Trend zur Mega-Agglomeration anhält. Da können smarte Sachen helfen, wenn sie die Bürger nicht nur um die Staus herumlotsen, sondern auch um die Schießereien hier und da. Wo die Smart City aufhört, fängt der Polizeistaat an, weil insbesondere die Gesichtserkennung in den smarten Lampen die Bürger unter Generalverdacht stellt. John Sudworth, ein Reporter der BBC ließ sich in einer chinesischen Stadt suchen und war nach wenigen Minuten fürsorglich umlagert.

Gerade weil die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag davon spricht, das Konzept der "intelligenten Videoüberwachung" auszubauen, hat Smart City nach Ansicht der Juroren einen Preis verdient, ohne das eine einzelne Firma oder eine Stadt ausgezeichnet wird. "Eine „Smart City“ ist die perfekte Verbindung des totalitären Überwachungsstaates aus George Orwells „1984“ und den normierten, nur scheinbar freien Konsumenten in Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“", so die Laudatorin Rena Tangens.

Von der Smart City zum Smart Home ist es nur einen Katzensprung. Was heute von ahnungslosen Verbrauchern praktiziert wird, die sich einen mithörenden Freund in die Wohnung stellen, bringt padeluun von Digitalcourage auf die Palme. Für ihn ist Amazons Alexa – stellvertretend für Siri, Google Assistant, Microsoft Cortana, Samsung Bixby und Nuance ausgezeichnet – "eine Abhörschnittstelle, die sich zum Beispiel als Wecker tarnt, aber ein allwissender Butler in fremden Diensten ist, der sich von mir höchstpersönlich ins Schlafzimmer tragen und an das weltweite Überwachungsnetz anschließen lässt." Deshalb steht Amazons Alexa in der Tradition von Hello Barbie, die im Jahre 2015 gekonnt einen Preis abräumte und macht Amazon zum Seriensieger. Denn die Amazon Logistik und der Mechanical Turk von Amazon konnten ebenfalls 2015 punkten.

Es ist keine Frage, dass mit Alexa, Siri, Cortana und Co die Sprache der nächste große Sprung in der Entwicklung der universalen "Benutzeroberfläche" ist. Selbst ein alter Digitalhase wie padeluun schwärmt davon, wenn er beim Nudelkochen mit "Alexa, Timer 8 Minuten" den Kurzzeitwecker einstellen kann. Doch der Verbund mit der dahinter liegenden Kontrollstruktur ist problematisch, unter vielen Aspekten. So berichtete unlängst die Süddeutsche Zeitung, dass die Polizei im US-Bundesstaat Arkansas in einem Mordfall Alexa in den Zeugenstand berufen wollte, weil der Mord vom System möglicherweise aufgezeichnet wurde. Der Widerstand gegen Alexa ist für die Macher und Macherinnen hinter dem Big Brother Award gleichbedeutend mit dem Widerstand gegen den großen Lauschangriff und alle Überwachungsmaßnahmen, die mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze vor 50 Jahren begann, als die G10-Gesetze zur Telefonüberwachung eingeführt wurden.

So endet der Vorab-Bericht aus Bielefeld mit dem dramatischen Anti-Alexa-Appell von padeluun: "Liefert Euch nicht aus, behaltet Eure Widerstrebsamkeit, ohne die Zivilisation und Demokratie nicht lebendig existieren können. Ja, das bedeutet, dass wir den Wecker noch ein paar Jahre von Hand stellen müssen. Aber wenn das alle tun, können wir unsere Kinder und Enkel darum beneiden, dass sie Technik komfortabel nutzen können, ohne die Angst, Opfer von Manipulation und Machtinteressen zu werden Denn es ist unsere Aufgabe, jetzt dafür zu sorgen, dass wir datenschutz- und freiheitsfördernde Technik bekommen. Das ist möglich! Doch dafür müssen wir hartnäckig und widerständig bleiben – auch gegenüber unseren Freundinnen und Freunden und gegenüber uns selbst – und wir dürfen weder der Technikgläubigkeit, noch dem Kontroll- oder Spieltrieb, der Bequemlichkeit oder dem Überwachungswahn nachgeben." (bme)