Panorama

Münster, Wuppertal und Hamburg "Nicht jeder unangenehme Mensch ist krank"

Je monströser die Tat, desto mehr suchen die Menschen nach Erklärungen.

Je monströser die Tat, desto mehr suchen die Menschen nach Erklärungen.

(Foto: dpa)

In Münster rast ein Mann in eine Menschenmenge, in Hamburg ersticht ein anderer sein Kind und seine Ex-Frau an einer U-Bahn-Haltestelle, in Wuppertal ergreift ein Mann ein fremdes Kind und springt mit ihm vor einen einfahrenden Zug. Wer so handelt, kann doch nur psychisch krank sein, denken viele. Doch das ist ein Irrtum, sagt die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh.

n-tv.de: Viele Menschen haben das Gefühl, dass es mehr Taten von psychisch kranken Tätern gibt. Ist das so?

Nahlah Saimeh: Zunächst ist es einmal so, dass über alle besonders spektakulären Fälle und gerade über schwere öffentliche Gewalttaten sehr viel berichtet wird. Die Hintergründe der verschiedenen Taten wie jetzt in Münster, Hamburg und Wuppertal sind aber noch gar nicht hinreichend bekannt, um die Motive der Täter wirklich abschließend einschätzen zu können. Der Täter von Münster soll ein ganzes Waffenarsenal in verschiedenen Wohnungen besessen haben. Das spricht zumindest nicht für eine Spontantat, sondern für eine lange gedankliche Beschäftigung mit der Tötung von Menschen - aus welchen persönlichen Gründen auch immer.

Neigen denn psychisch kranke Menschen prinzipiell eher dazu, schwere Straftaten zu begehen?

Nahlah Saimeh ist noch bis Ende de Monats Ärztliche Direktorin des Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn.

Nahlah Saimeh ist noch bis Ende de Monats Ärztliche Direktorin des Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn.

(Foto: Alexandra Höner)

Menschen mit akuten Psychosen haben statistisch gesehen eindeutig ein erhöhtes Risiko für Gewalttätigkeit. Es liegt um das Zehnfache höher als in der Normalbevölkerung. Sie können von außen völlig unvorhersehbare Straftaten begehen. Zum Teil trifft es dann auch völlig zufällige Opfer, wie zum Beispiel dieses Kind am Bahnsteig. Die meisten Opfer sind aber Familienangehörige. Ganz viele psychische Erkrankungen gehen aber nicht mit einer erhöhten Gewalttätigkeit einher. Wir reden hier nur über einen ganz kleinen Bereich, wie eben Psychosen oder sehr schwere Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen, die mit einem statistisch erhöhten Risiko für Gewalttätigkeit verbunden sind.

Viele Menschen verstehen nicht, wie jemand so etwas tun kann. Also muss der Täter ja verrückt sein im Sinne von psychisch krank. Gibt es denn auch andere Erklärungen?

Gerade bei Familientragödien können natürlich auch andere Aspekte eine Rolle spielen. Bei Tötungen des Intimpartners und des eigenen Kindes denken wir zum Beispiel auch an Eifersucht. Diese kann real oder wahnhaft begründet sein. Dann gibt es den Bereich der subjektiv empfundenen Ehrverletzungen. Aber auch bei schizophrenen Psychosen kommen Tötungsdelikte gegen die engsten Familienangehörigen vor, dann aber meistens zu Hause. Es ist schon ungewöhnlich, dass es mitten auf dem U-Bahnhof war. Aber man kann da keine psychopathologische Ferndiagnose machen, denn es kann natürlich auch einen ganz anderen Hintergrund geben. Wir wissen, dass Menschen, die den Kulturkreis wechseln und in ein Land mit erheblichen soziokulturellen Unterschieden kommen, ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen haben. Dann gibt es noch den Risikofaktor Drogenkonsum, der für schwere Gewaltstraftaten als Katalysator wirken kann. Da muss man sauber psychiatrisch diagnostizieren, ob es überhaupt eine psychische Störung gibt oder ob andere Beweggründe eine Rolle spielen, die mit der Persönlichkeit des Täters zu tun haben, aber nicht im engeren Sinn eine psychische Erkrankung sind.

Hat das etwas mit unserer Sichtweise auf psychische Erkrankungen zu tun?

Psychische Erkrankungen werden in der Bevölkerung stark mit Gefährlichkeit assoziiert. Das ist ein echtes Stigmatisierungsproblem. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde wendet sich seit Jahren dagegen, weil psychische Erkrankungen und Gewalttätigkeit natürlich erstmal zwei völlig voneinander losgelöste Phänomene sind. Eine Gewaltstraftat oder auch ein Tötungsdelikt können Menschen aus ganz unterschiedlichen, auch normal psychologisch nachvollziehbaren Motiven begehen. Dazu gehören Habgier, Neid, Eifersucht oder auch Kränkungen durch bevorstehende Trennungen. Zum Beispiel will eine Frau sich trennen, zum Beispiel von einem gewalttätigen Partner und der Mann kann mit dieser Situation nicht umgehen, weil er eine Art Besitzanspruch anmeldet, nach dem Motto: Wenn du dein Leben nicht an meiner Seite verbringen kannst und willst, dann hast du das Recht auf dein Leben verwirkt. Dann verhängt er gegen die Ex-Partnerin eine Art Todesstrafe. Das ist sicher Ausdruck eines zugespitzten Aspektes einer Persönlichkeit, aber das hat noch lange nichts  mit einer psychischen Erkrankung zu tun. Nicht jeder Mensch mit unangenehmen Eigenschaften ist krank. Das sehen wir zum Beispiel auch bei terroristischen Taten. Da gibt es viele Täter, die sind psychisch vollkommen gesund.

Eine weitere Frage, die sich viele stellen: Hätte man das vorher bemerken können, dass da jemand aus dem Ruder läuft?

Das ist mitunter nicht leicht. Wir haben ja nur dann überhaupt die Möglichkeit, eine Risikoanalyse zu erstellen, wenn der Mensch vorher in einem psychiatrischen Hilfesystem aufgetaucht ist. Wir können nichts tun bei Personen, die sich im stillen Kämmerlein irgendetwas zurechtlegen und weitgehend abgeschottet von der Außenwelt leben. Aber nur weil jemand ein zurückgezogener Mensch ist, kann man jetzt eben auch nicht gleich in seine Wohnung gucken. Da ist eine Grenze erreicht. Gerade bei Selbsttötungen, bei denen auch andere Menschen mit in den Tod gerissen werden, gibt es auch bestimmte Modephänomene ähnlich wie beim Werther-Effekt. Gerade scheint das der Einsatz von Autos zu sein. Was man sicher anschauen muss: Wenn jemand lebensüberdrüssig ist, wie stark ist das möglicherweise mit Gedanken verknüpft, dass dann auch andere Menschen kein Anrecht auf ihr Lebensglück haben?

Wie meinen Sie das?

Klassisch Depressive sind kaum aggressiv anderen gegenüber, sie leiden vielmehr ganz unerträglich und haben eher die Idee, dass es auch den anderen ohne sie besser geht. Dann gibt es noch den sogenannten erweiterten Suizid, der sich auf nahestehende Menschen bezieht. Ein klassisches Beispiel ist die depressive Mutter, die ihre Kinder und dann sich selbst tötet. Sie hat das pseudoaltruistische Motiv, die Kinder nicht mutterlos und vereinsamt aufwachsen zu lassen. Aber es gibt Persönlichkeiten, die im Sinn eines narzisstischen Mechanismus auch das Lebensglück anderer nicht ertragen können. Da spielt natürlich Anmaßung eine nicht unerhebliche Rolle. Das wird bei der klassischen Suizidabklärung bisher häufig nicht so in Betracht gezogen. Inwiefern sind Wut, Frustration und Rachegelüste mit dem eigenen Lebensüberdruss verquickt? Man muss bei der Abklärung von Suizidalität immer nach der Verknüpfung von Selbsttötung und Tötung anderer fragen, also nach dem sogenannten Homizid-Suizid. Diesen Aspekt grundsätzlich in der psychiatrischen Untersuchung mit zu berücksichtigen ist vielleicht etwas ungewohnt, gehört aber dazu. Es gibt sehr gute Studien aus England, die zeigen, dass in Allgemeinen Psychiatrien immer nach Suizidalität gefragt wird, aber der Aspekt der Gewaltfantasien und Handlungen gegen Dritte kaum erhoben wird. Das muss man ändern.

Bei der juristischen Aufarbeitung landen ja psychisch kranke Täter nicht im Gefängnis, sondern in der Psychiatrie. Wie gut sind dort die Behandlungschancen?

Wichtig ist zunächst einmal: Diese Täter kommen nicht in die Psychiatrie, sondern in die forensische Psychiatrie. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, weil die forensische Psychiatrie ein hochgesicherter Spezialbereich der Psychiatrie ist, in dem ausschließlich Menschen behandelt werden, die schwere Straftaten begangen haben und bei denen Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldunfähigkeit festgestellt wurde. Der Auftrag ist dann, diese zum Urteilszeitpunkt als gefährlich eingestuften psychisch Kranken sicher unterzubringen und psychiatrisch und psychotherapeutisch zu behandeln. Und das gelingt in der Forensik ziemlich gut. Gerade Menschen, die aus psychotischen Motiven heraus schwere Gewalttaten wie Tötungsdelikte begangen haben, können gut behandelt werden. Zu 95 Prozent werden diese Menschen nie wieder strafrechtlich auffällig, nicht mal durch Schwarzfahren. Entlassen wird aber nur, wer nicht mehr gefährlich ist, denn die Forensik hat auch einen Sicherungsauftrag vor Rückfallstraftaten. Die Behandelbarkeit eines Menschen richtet sich nach der Störung, nach der Diagnose und auch nach dem Behandlungswillen - aber nicht unbedingt nach der  Schwere der Straftat.

Mit Nahlah Saimeh sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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