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Warkus' Welt: Der Denkfehler der 'Reichsbürger'

So genannte Reichsbürger haben eine Menge verquerer Ansichten. Mit Hilfe der Philosophie lässt sich der elementare Denkfehler, den sie begehen, aufspüren.
Voodoopuppe mit Nadeln im Körper

2017 wurden laut BKA in Deutschland insgesamt 771 politisch motivierte Straftaten durch "Reichsbürger" begangen: durch Menschen, die glauben, die Bundesrepublik Deutschland gebe es nicht oder sie sei illegitim. Häufig führen diese Überzeugungen ihre Anhänger dazu, mehr oder minder amüsante "Maßnahmen" zu ergreifen und zum Beispiel ihr Nummernschild kopfüber am Auto anzuschrauben.

Durch ihre Onlinepräsenz und einige blutige Zwischenfälle stehen Reichsbürger inzwischen im Interesse der Öffentlichkeit. Dass manche von ihnen gefährliche und oft kriminelle Rechtsextremisten sind, dass ihre Überzeugungen abwegig sind und sich leicht widerlegen lassen, ist keine Sache der Philosophie. Allerdings können wir mit philosophischen Mitteln beschreiben, was der grundlegende Denkfehler ist, der die Überzeugungen dieser Menschen begleitet.

Personalausweis, Nummernschild, Urkunde oder Flagge sind Gegenstände, die für etwas stehen. Mein Personalausweis etwa steht unter anderem für meine deutsche Staatsangehörigkeit und meinen Hauptwohnsitz in Jena. Die deutsche Flagge steht für den deutschen Staat. Das Nummernschild steht dafür, dass (und wo) ein Fahrzeug zugelassen ist, eine Urkunde zum Beispiel für eine Eheschließung oder ein Gerichtsurteil.

Beamte sind nicht Harry Potter, der sich wegen undeutlicher Aussprache an den falschen Ort zaubert

Anders ist das etwa bei einer Nadelpuppe, wie sie angeblich in der "Voodoo-Zauberei" benutzt wird (Puppen, in die man als Schadzauber Nadeln hineinsticht, sind ursprünglich eine europäische Tradition und haben mit der Voodoo-Religion in Haiti und Louisiana nichts zu tun). Wenn ich an diese Magie glaube und sie korrekt praktiziere, dann steht das magische Objekt nicht nur für den, dem ich schaden möchte, sondern in gewissem Sinne ist es diese Person auch. Eine Nadel ins Herz der Puppe – und das Herz des betreffenden Menschen soll schmerzen.

Dass Personalausweise oder Urkunden für etwas stehen, heißt jedoch gerade nicht, dass sie es auch sind oder es verkörpern. Wenn ich meinen Reisepass verbrenne, bin ich immer noch Deutscher, und wenn ich mir aus einer Meldebescheinigung einen lustigen Hut falte, bin ich dennoch weiterhin Einwohner von Jena. Ausweis und Urkunde sind keine magischen Objekte.

Verwaltung ist keine Magie

Genauso sind auch amtsdeutsche Sätze keine Zaubersprüche. Zwar hat ein Satz wie "Ich erkläre Sie zu Mann und Frau" oder "Die Klage wird abgewiesen" tatsächlich eine Wirkung (als performativer Sprechakt), aber keine magische. Wenn eine Standesbeamtin im Bus in Gedanken die nächste Trauung durchgeht und versehentlich laut "Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau" sagt, dann führt das nicht dazu, dass das Paar vor ihr schlagartig ungewollt verheiratet ist. Versprecher können nicht versehentlich Ehen schließen, und Beamte sind auch nicht Harry Potter, der sich wegen undeutlicher Aussprache an den falschen Ort zaubert.

Wenn wir uns nun anschauen, was Reichsbürger glauben, dann finden wir dort oft solche magische Vorstellungen: zum Beispiel, dass man Behördenschreiben unwirksam machen kann, indem man die Ecken abschneidet oder durchstreicht; oder auch, dass ein einzelner Mann (der damalige US-Außenminister James Baker) 1990 mit einem einzigen Satz versehentlich (!) die BRD aufgelöst haben soll. Online finden sich Anleitungen für verschiedenste Taktiken, mit denen man Beamte dazu bringen soll, bestimmte Sätze zu äußern, damit bestimmte rechtliche Wirkungen eintreten (natürlich gegen den Willen der Beamten!).

Die philosophische Disziplin, die sich mit bedeutungstragenden Phänomenen im Allgemeinen beschäftigt, ist die Semiotik oder auch Zeichentheorie. Eine der größten Innovationen auf ihrem Gebiet (zurückgehend auf Charles S. Peirce, 1839–1914) war die Erkenntnis, dass Bedeutung immer vermittelt ist: Etwas steht für etwas anderes immer hinsichtlich etwas Drittem. Ein Sprechakt schließt eine Ehe, ein Ausweis steht für einen Staat nur hinsichtlich seiner praktischen Auswirkungen auf das menschliche Handeln.

Für Reichsbürger ist Bedeutung aber offenbar eine unmittelbare und beidseitige Beziehung – der Verwaltungsakt ist im Papier verkörpert. Wer das Papier malträtiert, der entwertet damit den Beschluss. Was irgendjemand sonst von der ganzen Sache hält, spielt keine Rolle. Fachsprachlich: Reichsbürger glauben, dass Symbole einer Manifestationslogik gehorchen.

Die traurige Schlussfolgerung: Reichsbürger sind nicht bloß Menschen mit einer eigenwilligen Auffassung der völkerrechtlichen Lage. Sie haben eine grundsätzlich andere Weltsicht, die eher einem kindlichen Aberglauben ähnelt. Selbst wenn wir einen von ihnen davon überzeugen könnten, dass die BRD legitim existiert, würden uns möglicherweise noch Welten von dieser Person trennen.

Absurderweise halten sich gerade Menschen, die auf diese Weise unreif sind, oft für souveräne Selbstdenker im Sinne der Aufklärung (frei nach Immanuel Kants "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"). Ein großes Problem unserer Zeit ist offenbar – und das betrifft nicht nur Reichsbürger – der Umgang mit ausgewachsenen Menschen, die glauben, zu denken wie Erwachsene, in Wirklichkeit aber denken wie kleine Kinder.

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