Mehr über Ursachen von Depressionen

Politische Brisanz einer millionenfach vorkommenden psychischen Störung

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Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2013 wurde bei 6,0% der Deutschen (knapp 5 Millionen Menschen; Frauen: 8,1%, Männer: 3,8%) innerhalb der letzten zwölf Monate eine Depression diagnostiziert. Im Laufe eines Lebens bekämen 11,6% (knapp 10 Millionen Menschen; Frauen: 15,4%, Männer: 7,8%) mindestens einmal die Diagnose gestellt. Ob man Depressionen darum eine "Volkskrankheit" nennen sollte, sei dahingestellt. Fakt ist: Es betrifft Jahr für Jahr sehr viele Menschen, davon einen großen Teil nicht zum ersten Mal.

Was sind überhaupt Depressionen? Betrachten wir die neue Klassifikation der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahr 2013. Demnach liegt eine depressive Störung (Fachjargon: Major Depressive Disorder) vor, wenn mindestens fünf der folgenden neun Symptome mindestens zwei Wochen lang anhalten, worunter wenigstens eines der ersten beiden Symptome sein muss:

Kriterien für Depressionen, verkürzt und übersetzt nach DSM-5

  • depressive Verstimmung, bei Kindern oder Jugendlichen möglicherweise eine reizbare Stimmung;
  • auffälliger Verlust des Interesses oder der Freude an Aktivitäten;
  • signifikanter Gewichtsverlust ohne Diät oder eine Gewichtszunahme;
  • Schlaflosigkeit oder zu viel Schlaf;
  • übertriebener Bewegungsdrang oder Trägheit;
  • Müdigkeit oder Verlust von Energie;
  • Gefühl der Wertlosigkeit oder übertriebene Schuldgefühle;
  • Konzentrationsschwierigkeiten oder Entscheidungslosigkeit; und
  • wiederholte Gedanken an den Tod oder ein Selbstmordversuch.

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass es sich bei Depressionen um ein komplexes Störungsbild handelt. Mithilfe dieser Kriterien lassen sich insgesamt 227 verschiedene Formen unterscheiden! (Freunde der Kombinatorik mögen dies bitte nachrechnen.) Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass einige Kriterien gegenteilige Symptome enthalten, etwa zu viel oder zu wenig Schlaf, zu viel oder zu wenig Bewegung, Gewichtsverlust oder auch Zunahme.

Zwei Menschen mit der gleichen Diagnose haben im äußersten Fall bloß ein einziges Kriterium gemeinsam, etwa 1, 3, 4, 5 und 6 gegenüber 2, 6, 7, 8 und 9 von der Liste. Wer jetzt noch behauptet, er wisse beim Thema Depressionen genau, wovon er redet, der begibt sich auf dünnes Eis. Es ist jedenfalls alles andere als ein einheitliches Störungsbild.

Selbstbild der Psychiatrie

Manche psychiatrische Vereinigungen erwidern hierauf mit dem Hinweis, bei Depressionen handle es sich um eine Erkrankung im medizinischen Sinne. Das soll wohl heißen, dass es einen Erreger oder eine organische Ursache gibt, wie bei anderen Erkrankungen auch. Für Depressionen und alle anderen psychischen Störungen sucht man aber nach wie vor danach.

Der Gedanke hinter diesem Argument ist wahrscheinlich, dass die Psychiatrie (und mit ihr die klinische Psychologie) ihren Gegenstand und damit ihre Daseinsberechtigung verlieren würde, wenn psychische Störungen keine "echten" Erkrankungen wären.

Die Echtheit von Depressionen ergibt sich aber doch nicht aus dem Vorhandensein einer biologischen Ursache, sondern aus dem Leiden und der Einschränkung im Leben der Betroffenen. Und dies lässt sich zum Beispiel mit den genannten Symptomen ausdrücken: Niedergeschlagenheit, Verlust der Lebensfreude, Schuldgefühle, Gedanken an den Tod und so weiter.

Wirklich ist, was wirkt

Das Argument von den Erkrankungen im medizinischen Sinne verkennt die psychosoziale Realität unserer Lebenswelt. "Wirklich ist, was wirkt!", wie es Karl Popper (1902-1994) häufig formulierte. Und wer bezweifelt, dass etwa Angst, Eifersucht, Hass oder Liebe psychische Vorgänge sind, die in unserer Welt wirken? Wer verlangt, wenn jemand zu ihm sagt: "Ich liebe dich", einen Gehirnscan als Beweis? Und was würde er auf so einer Abbildung des Nervensystems wirklich sehen? Sicher nicht die Liebe selbst. Die psychischen Vorgänge erleben wir zudem nicht nur in uns selbst, sondern wir sehen sie auch im Verhalten unserer Mitmenschen - sowie mancher Tiere.

Wer dennoch am biologischen Beweis festhält, der handelt sich ein noch größeres Problem ein: Welche ist denn die "echte" Depression? Etwa das "manisch-depressive Irresein" nach dem Psychiatrie-Pionier Emil Kraepelin (1856-1926) vor rund hundert Jahren? Die Klassifikation der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung im DSM-III von 1980? Die hier zitierte Variante von 2013? Oder vielleicht erst die im für 2018 erwarteten ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation? Nein, die Symptome und das Leid sind real, daran besteht kein Zweifel - und doch ist Depression eine Definition, über die sich Experten am Konferenztisch verständigen ("Es gibt keine Depressionen").

Stiftung Depressionshilfe

Kürzlich kommentierte ich hier eine in den Medien stark verbreitete Pressemitteilung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in Zusammenarbeit mit der Deutsche Bahn Stiftung (Was sind Ursachen von Depressionen?). In dem offenen Brief kritisierte ich vor allem die Empfehlung, psychosoziale Ursachen solle man weniger ernst, dafür biologische umso ernster nehmen.

Zur Erinnerung: Die Befragung hatte ergeben, dass rund 90% der Allgemeinbevölkerung Probleme mit Mitmenschen, die Arbeitsbelastung oder Schicksalsschläge als relevante Ursachen ansahen, jedoch nur knapp 65% Vererbung oder eine Stoffwechselstörung im Gehirn.

In Reaktion auf einige Leserkommentare sowie eine Antwort von Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig sowie Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, will ich die Gedanken über die Ursachen der Depression hier noch einmal vertiefen. Diese Diskussion ist auch politisch brisant. Denn die Unterscheidung in biologische und psychosoziale Ursachen fällt ungenannt mit einer anderen Gegenüberstellung zusammen, die es in sich hat: nämlich der zwischen Individuum (Gene, Gehirn) und Gesellschaft (Mitmenschen, Lebensumstände).

Individualisierung

Das heißt, wer sich auf die biologische Sichtweise einlässt, der unterstellt implizit, dass die Ursache - oder der Fehler oder das Problem - im Menschen mit der Depression liegt; wer hingegen die psychosozialen Aspekte hervorhebt, der verteilt die Verantwortung in der sozialen Umgebung des Betroffenen, denken wir an Schicksalsschläge, chronischen Stress durch Überarbeitung oder familiäre Verpflichtungen oder auch an mobbende Kollegen.

Das ist übrigens keinesfalls zwingend: Man könnte biologisch etwa von Umweltgiften (Umgebung) oder psychosozial von Faulheit (Individuum) sprechen; das wird jedoch in aller Regel nicht getan. In der politischen Tradition nach der früheren britischen Ministerpräsidentin Margaret Thatcher (1925-2013), dass es keine Gesellschaft gebe und ergo der Einzelne für alles verantwortlich sei (O-Ton von 1987: "And, you know, there's no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first."), sollte einen das Verorten der Ursachen von Depressionen im Individuum durch die biologische Sichtweise aufhorchen lassen.

Ent-Schuldigung

Jetzt kommt aber die molekularbiologische Psychiatrie und sagt: "Halt! Das Problem mag zwar im Einzelnen liegen, jedoch kann keiner etwas für seine Gene und auch die Gehirnstörung ist eine Krankheit, die einen zufällig treffen kann, wie jede andere." Nachdem sie das Individuum in den Mittelpunkt gestellt hat, ent-schuldigt die Psychiatrie es sogleich.

Solche Macht haben sonst nur Richter und, nach persönlicher Vorliebe, vielleicht noch Priester. Das soziale Konstrukt Verantwortung verschwindet so in der Zufälligkeit der Kombination von DNA-Strängen und neurobiologischer Vorgänge im Körper. Gene und Botenstoffe können ebenso wenig verantwortlich gemacht werden wie Erdbeben und Vulkanausbrüche. Nur Personen können verantwortlich gemacht werden. Man könnte daher meinen, die Diagnose Depression sei eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Für und Wider molekularbiologische Psychiatrie

Um hier Missverständnisse zu vermeiden: Die molekularbiologische Sichtweise könnte stimmen. Dann sollte man aber erwarten, dass sich ein starker Zusammenhang zwischen Genen, Gehirnzuständen und Depressionen herstellen lässt. Mit etwas theoretischer Vernunft wird einem schnell klar, dass die Natur die psychiatrischen Diagnosehandbücher unserer Zeit natürlich nie gelesen hat und daher nicht zu erwarten ist, dass die 227 immer noch sehr unscharfen (wie viel ist "signifikanter" Gewichtsverlust, wie viel "zu viel" Schlaf usw.?) Kombinationsformen der Störung irgendeinem identifizierbaren Naturzustand entsprechen.

Hier könnte man einwenden, dass unser Verständnis von Depressionen eben noch nicht endgültig ist. Das stimmt sicher, macht den Standpunkt für den Psychiater - der immerhin aufgrund des heutigen Verständnisses diagnostiziert, behandelt und ent-schuldigt - aber nicht einfacher! Respekt für all diejenigen, die sich in aller Redlichkeit trotzdem auf diese Herausforderung einlassen. Wenn aber an dem molekularbiologischen Ansatz der Psychiatrie etwas dran ist, dann sollte man doch erwarten, dass sich wenigstens irgendeine der rund 150 bis 600 unterschiedenen psychischen Störungen deutlich genug in Genen oder Gehirnen abzeichnet, dass man damit eine Diagnose stellen könnte.

Das ist aber nicht der Fall. Und zwar nach mehr als hundert Jahren in der neurobiologischen Tradition Emil Kraepelins und anderer Pioniere der wissenschaftlichen Psychiatrie. Und zwar nach Jahrzehnten sprudelnder Forschungsmilliarden - es sind wirklich Jahr für Jahr Milliarden! - mit immer ausgefalleneren Gehirnscannern und Gensequenzierern. Nein, die molekularbiologische Psychiatrie steckt in ihrer tiefsten Krise seit langem, auch wenn man das noch nicht überall wahrhaben möchte (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).

Pionier am Umdenken

Eine in diesem Zusammenhang interessante Persönlichkeit ist der amerikanische Psychiater Kenneth Kendler (Jahrgang 1950), einer der einflussreichsten Wissenschaftler unserer Zeit. Er hat seit den 1970er Jahren bis heute an drei Ausgaben des dort und in vielen anderen Ländern maßgeblichen Diagnosehandbuchs (DSM-III von 1980, DSM-IV von 1994, DSM-5 von 2013) mitgearbeitet; zuletzt übrigens ganz konkret in der Arbeitsgruppe für affektive Störungen, also auch den Depressionen in der Form, die wir oben kennengelernt haben.

Als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Genetik psychischer Störungen hatte er sich in jungen Jahren angeschickt, das Geheimnis der Schizophrenie zu knacken - bis heute ist das keinem gelungen ("Es gibt keine Schizophrenie"). Auch zu den Ursachen von Depressionen hat er maßgeblich geforscht. Jetzt, auf seine älteren Tage, rückt er jedoch zunehmend vom molekularbiologischen Ansatz ab; seine Gedanken zum Wesen psychischer Störungen seien denjenigen, die nicht vor Englisch zurückschrecken, wärmstens empfohlen.

Vage Anhaltspunkte

Halten wir fest: Die biologische Sichtweise könnte stimmen; sie ergibt aber einfach kein schlüssiges Bild psychischer Störungen. Professor Hegerl, der die biologischen Ursachen als relevanter verstanden haben will, schreibt in Antwort auf meine kritischen Fragen:

Hier [das ist im Organismus, Anm. d. A.] kann dann wieder … nach Veränderungen in verschiedenen neurochemischen Systemen und Hirnfunktionen (z.B. Stresshormonsystem) gesucht werden, die als Auslöser wirken können oder die die biologische Grundlage für die aktuelle depressive Symptomatik darstellen. Hierbei ist festzuhalten, dass zwar eine Fülle von Veränderungen beschrieben sind, der genaue Krankheitsmechanismus aber noch nicht aufgeklärt ist.

Ulrich Hegerl

Diese "Fülle von Veränderungen" (gemeint ist: im Körper beziehungsweise im Gehirn, im Nervensystem, in den Genen) krankt leider an zu viel Widersprüchlichkeit und vor allem daran, dass der herrschende Standard für wissenschaftliche Publikationen statistische Signifikanz ist, nicht aber praktische Relevanz.

Praktische Relevanz, statt statistischer Signifikanz

Was heißt das konkret? Dass die in der Forschungslandschaft beschriebene "Fülle von Veränderungen" für die klinische Psychiatrie praktisch irrelevant ist. Diese Funde müssen bloß in einer Gruppe von Versuchspersonen irgendein Muster aufweisen, das nicht rein zufällig aussieht. Dafür gibt es statistische Signifikanztests. Diese wurden ursprünglich für den Landbau entwickelt, nämlich um die größten Kartoffeln zu züchten. Da kommt es nicht auf die einzelne Knolle an, solange sie im Mittel größer werden.

Nun ist es aber ein weiter Weg von Kartoffeln und anderen Feldfrüchten hin zum einzelnen, einzigartigen Menschen. Der Standard für die wissenschaftliche Psychiatrie müsste ohne Zweifel die praktische Relevanz sein - Psychiatrie ist ja schließlich nicht nur eine Sphäre für wilde Ideen, wie es vielleicht Philosophie und Mathematik sind, sondern wichtiger Teil der praktischen Wissenschaft, genannt Medizin.

Wie wir am Anfang gesehen haben, bekommen allein in Deutschland jedes Jahr rund 5 Millionen Menschen die Diagnose Depression. Nehmen wir die häufigsten anderen Störungen hinzu, dann kommen die führenden Forscher auf diesem Gebiet auf knapp 40% der Bevölkerung beziehungsweise rund 33 Millionen Menschen in Deutschland, über 150 Millionen in der EU (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört). Und das jedes Jahr!

Praktische Relevanz misst man nicht mit dem Signifikanztest, sondern mit der Effektgröße. In der Forschung werden dafür in der Regel Menschen (oder auch Versuchstiere) in zwei Gruppen getrennt, eine mit der Diagnose und eine ohne. Jetzt schaut man nach einem Kriterium, das kann die Ausprägung von Genen sein oder auch psychosoziale Merkmale. Vergleicht man die Häufigkeit des Vorliegens eines Kriteriums in beiden Gruppen, dann kann man das Quotenverhältnis berechnen. Je größer dieses Verhältnis, desto größer der Effekt.

Effektgrößen entscheiden

Um hier nicht nur rein theoretisch zu argumentieren, habe ich in meinem offenen Brief an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe solche Quotenverhältnisse aufgeführt: die allgemeinen für Gene, die vielfach mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht wurden (nach dem erwähnten Kenneth Kendler), sowie diejenigen für schwere Lebensereignisse wie dem Tod eines Nahestehenden, Scheidung, Verlust der Arbeit oder Erleben eines Verbrechens (zufällig ebenfalls nach Kendler, doch hier gibt es viel mehr Literatur mit ähnlichen Ergebnissen).

Dabei zeigte sich: Der Beitrag des Psychosozialen zu Depressionen scheint für diese Beispiele vier- bis siebenmal so groß zu sein wie das Biologische. Es wäre hilfreich gewesen, hätte die Stiftung, die so sehr an der Biologie festhält, hier bessere Daten angeführt; oder sonst irgendeiner meiner Kritiker in der Diskussion. Dass es niemand getan hat, meine zugegebenermaßen nicht lückenlose Erfahrung in dem Forschungsgebiet und Rücksprache mit Kollegen, die aktiv in der Psychiatrie forschen, bestärken mich aber in meiner Vermutung, dass es schlicht keine besseren Daten gibt.

Neue Genetik-Studie

Tatsächlich sieht es für die molekularbiologische Psychiatrie noch schlechter aus, als ich es beim Schreiben meines vorherigen Artikels vermutete. Der beste Hinweis fiel nämlich auf eine 2015 in Nature veröffentliche Studie zur Genetik depressiver Störungen. Wir haben gelernt: Schaue nicht nur auf die statistische Signifikanz, sondern auch auf die Effektgröße. Diese ist allerdings noch einmal um mehr als 20% kleiner als das, was ich im letzten Beitrag der Gegenseite eingeräumt habe (Was sind Ursachen von Depressionen?). Damit ergibt sich folgendes Bild:

Von links nach rechts sehen wir die Effektgrößen der genannten Genetik-Studie in Nature aus dem Jahr 2015 (blau), der Gene allgemein, die mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht werden allgemein (rot), schwerer (gelb) und schwerster Lebensereignisse (grün).

Vergleicht man diesen neuen Fund, ein Beispiel für Hegerls "Fülle organischer Veränderungen", mit den schwersten Lebensereignissen, dann ist das Psychosoziale ca. 8,5-mal so stark beteiligt wie das Biologische. Dazu muss man aber noch sagen, dass der Fund der Nature-Studie nur für die ethnische Gruppe der Han-Chinesen signifikant war, von denen immerhin rund 10.000 untersucht wurden. Und auch nur Frauen. Und auch nur solche, mit schweren Depressionen.

Wir erfahren, dass die zwei gefundenen genetischen Ausprägungen irgendetwas mit Mitochondrien zu tun hätten. Dumm nur, dass ausgerechnet diese beiden Ausprägungen auf Chromosom 10 auf den Orten genannt rs12415800 und rs35936514 in Europäern kaum vorkommen. Und trotz dieses scheinbaren genetischen Pechs der Chinesen werden Depressionen dort 70% seltener diagnostiziert als in Deutschland. Wie verzweifelt muss jemand auf der Suche nach Erfolgserlebnissen sein, der so etwas als Durchbruch feiert?

Depressionen statt Rückenschmerzen?

Ich will zum Schluss kommen. Ulrich Hegerl hat Recht, wo er feststellt, dass in den letzten Jahren nur die Anzahl der Diagnosen von Depressionen zunimmt, nicht aber deren Häufigkeit nach Schätzungen der wissenschaftlichen Forschungsliteratur. Ob aber schlicht immer mehr Menschen psychologische und psychiatrische Hilfe suchen, weil mehr über deren Angebote bekannt ist, oder ob die Probleme der Menschen größer werden, das wissen diese Forscher nicht, das weiß Hegerl nicht und das weiß ich auch nicht. Zudem wurde hier die Rechnung völlig ohne das Burn-out-Syndrom gemacht, über das in den letzten Jahren immer häufiger berichtet wurde.

Im Interview im Radio Berlin Brandenburg behauptet Hegerl, früher seien halt häufiger Rückenprobleme diagnostiziert worden, die man heute korrekt als Depression erkennen würde. Diese These lässt sich überprüfen - und sie ist laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts wahrscheinlich falsch: Gaben 2003 15,5% der Männer und 21,6% der Frauen an, unter chronischen Rückenschmerzen zu leiden, waren es 2009/2010 schon 16,9% beziehungsweise 25,0%.

Mehr Frühberentungen wegen Depressionen

Hegerl hat allerdings Recht damit, dass psychische Störungen einen immer größeren Anteil der Frühberentungen ausmachen (2002: 28,5%, 2016: 42,9%). Seine Behauptung, deren Gesamtanzahl habe sich nicht verändert, ist jedoch fraglich: Es hängt davon ab, welche Zeiträume man miteinander vergleicht; und die Interpretation ist noch einmal eine ganz andere Frage.

Korrekt ist, dass es um das Jahr 2000 einen Rückgang gab. Die Rentenforscher Kalamkas Kaldybajewa und Edgar Kruse vermuten, dass dieser sowohl am medizinischen Fortschritt als auch am Rentenreformgesetz lag, das 2001 in Kraft trat und die Zugangsvoraussetzungen erschwerte.

Schaut man sich aber den Zehnjahreszeitraum von 2006 bis 2015 an, dann fällt folgendes auf: In den Krisenjahren gab es einen Anstieg der Frühberentungen, der im Jahr 2010 einen Höhepunkt erreichte (14% mehr, verglichen mit 2006); auch 2015 lag die Zahl noch knapp 10% höher als unmittelbar vor der Finanzkrise. Im selben Zeitraum sank die Zahl der Frühberentungen wegen Muskel- und Skeletterkrankungen, zu denen chronische Rückenschmerzen zählen, um knapp 20% von 26.490 auf 21.289; wegen psychischer Erkrankungen stieg sie aber um rund 44%, von 51.432 auf 74.234.

Die Gesamtzahl der Frühberentungen in Deutschland fluktuierte mit der Finanzkrise (blaue Linie, rechte Skala). Die Zahl der Frühberentungen wegen psychischer Störungen stieg um rund 44% (rote Linie, linke Skala), die wegen Muskel- und Skeletterkrankungen sank um knapp 20% (gelbe Linie, linke Skala). Quelle: Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes

Es trifft vor allem Hartz-IV-Empfänger

Die Zahl der Frühberentungen ist also nicht gleich geblieben, sondern spiegelt gesellschaftlich-ökonomische sowie gesetzliche Veränderungen wider. Wenn zudem, wie der Psychiatrieprofessor behauptet, die diagnostischen Methoden seines Fachs verbessert wurden und die Therapien helfen, dann ist es schier ein Rätsel, warum in jüngerer Zeit beinahe 50% mehr Menschen wegen psychischer Störungen aus dem Arbeitsleben ausscheiden mussten als zehn Jahre vorher. Diese Rechnung kann Ulrich Hegerl unmöglich für sich verbuchen.

Der Sachverhalt hat übrigens ein soziales Gesicht, wie die Rentenforscher Kaldybajewa und Kruse schreiben: "Gerade die Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II zeichnen sich durch besonders niedrige durchschnittliche Rentenzahlbeträge aus und werden überproportional wegen psychischer Störungen berentet." Diese Form der Frühberentung trifft also vor allem Hartz-IV-Empfänger, die dann wahrscheinlich mit einer Minimumrente über die Runden kommen müssen. Ich werde auf das soziale Gesicht der Depression am Ende zurückkommen. Festzuhalten ist: Ulrich Hegerls Erklärung ist weder mit Blick auf die Diagnose von Rückenschmerzen, noch auf den Verlauf der Frühberentungen schlüssig.

Arbeit mache nicht depressiv

Dennoch vertritt der Psychiatrieprofessor etwa in der Huffington Post die These: Arbeit macht nicht depressiv! (Danke an eine Leserin für den Hinweis.) Hegerl verweist darin auf eine Studie vom November 2015 über den Einfluss von Arbeitsbedingungen auf die psychische Gesundheit. Diese hat das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft durchgeführt.

Korrekt ist wiederum, dass auch diese Untersuchung keinen Anstieg der psychischen Störungen festgestellt hat. Sie war allerdings auf den Großraum München beschränkt und daher nicht repräsentativ. Für die letzte Befragung aus dem Zeitraum 2013-2015 fehlten zudem die Daten von Menschen jünger als 32 oder älter als 44 Jahre.

Wo wir schon beim Thema Repräsentativität sind: Dass die genannte Häufigkeit diagnostizierter Depressionen bei der Befragung der Deutschen Stiftung Depressionshilfe mit 22,9% doppelt so hoch ist, wie in der wissenschaftlichen Literatur allgemein berichtet, das zieht ihre Repräsentativität in starken Zweifel. (Danke an einen kritischen Leser für den Hinweis.) So etwas muss Depressionsexperten doch auffallen! Trotzdem stand davon im Bericht der Stiftung kein Wort.

Selektive Wahrnehmung

Noch frappierender ist aber, dass die von Ulrich Hegerl zitierte Studie des Max-Planck-Instituts auch Funde erbrachte, die seinem Standpunkt diametral widersprechen: Es scheinen nämlich für Depressionen und Angststörungen…

…vor allem traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend, chronischer und Alltagsstress sowie Temperamentfaktoren zu sein, die das Wiedererkrankungsrisiko beeinflussen. Darüber hinaus sind genetische Faktoren zu nennen, aber auch spezifische Ereignisse, die in der individuellen Biografie der Patienten zu finden sind. Unsere Ergebnisse legen jedoch nahe, dass die Schaffung günstiger Umgebungsbedingungen am Arbeitsplatz sich positiv auf das Wiedererkrankungsrisiko bei affektiven Störungen auswirken kann.

Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, 2015, S. 26

Und weiter:

Einen direkten Einfluss auf die berichteten Fehltage konnten für die Merkmale Ungünstige Umgebungsbedingungen am Arbeitsplatz (Lärm, Hitze / Kälte, Staub / Schmutz, ungünstige Räume, ungünstige Raumausstattung) sowie für empfundenes Mobbing (ungerechtfertigte Kritik, Schikanen, Bloßstellung) gezeigt werden.

Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, 2015, S. 25

Es ist kein guter wissenschaftlicher Stil, nur Befunde zu erwähnen, die die eigene Sichtweise bestätigen, und widersprüchliche Ergebnisse zu übergehen.

Beispiel Selbsttötungen

Der Psychiatrieprofessor verweist ferner auf die verglichen mit den 1980er Jahren in Deutschland beinahe halbierte Zahl der Suizide. Wenn diese aber auf eine bessere Behandlung zurückzuführen ist, wie er selbst vermutet, dann ist dies wiederum ein Hinweis auf ursächliche Faktoren des Psychosozialen, gerade nicht der Gene. Ein ähnliches Bild ergibt ein Vergleich der Zahlen einiger europäischer Länder:

Laut Zahlen der Weltgesundheitsorganisation ist die Anzahl der Suizide in Deutschland seit 2000 auf dem Niveau von ca. 25 pro 100.000 Einwohnern konstant. In Westeuropa führt Belgien mit großem Abstand die Statistik an. In den Niederlanden ist die Suizidrate aber stark gestiegen und nahmen sich 2016 mehr Menschen das Leben als jemals zuvor.

Würde nun der Anstieg der Diagnosen depressiver Störungen an verbesserten Behandlungsmethoden liegen, wie es Hegerl vermutet, dann hätte die Anzahl der Suizide eigentlich kontinuierlich abnehmen müssen. Vergleicht man zudem die Zahlen vor Beginn der Finanzkrise mit dem Stand von 2015, dann ergeben sich für Dänemark, Frankreich, Griechenland und die Niederlande deutliche Unterschiede:

In Griechenland gibt es zwar, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, sehr wenige Suizide, dafür stiegen sie innerhalb von zehn Jahren aber um über zehn Prozent. Besonders dramatisch war der Anstieg jedoch in den Niederlanden. Quelle: Daten der Weltgesundheitsorganisation

Niederländische Experten vermuten hinter dem Anstieg die zunehmende Individualisierung und Einsamkeit in der Gesellschaft, die allgemein steigende Nachfrage nach psychologischer Hilfe, wodurch die Versorgung schwieriger verfügbar werde, zunehmende Schwierigkeiten beim Wechsel in neue Lebensphasen und die ökonomische Krise. Letztere wird in der internationalen Fachliteratur auch zur Erklärung des Anstiegs in Griechenland herangezogen. Denken Sie selbst darüber nach: Sind das psychosoziale oder biologische Faktoren?

Geschlechterunterschiede bei Suiziden

Das Beispiel Suizid ist noch aus einem anderen Grund interessant für unsere Diskussion: Es ist bekannt, dass sich in so gut wie allen Ländern Männer häufiger umbringen als Frauen. In Deutschland beispielsweise betrug das Verhältnis im Jahr 2015 ca. 1,4:1. Paradox ist aber, dass sehr viel mehr Frauen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Biologisch geneigte Forscher suchten deshalb jahrzehntelang nach genetischen Unterschieden - und fanden bisher keine überzeugende Erklärung.

Diese ergibt sich eher aus dem Verständnis von Geschlechtsrollen: Erstens wählten Männer eher härtere Methoden wie Schusswaffen oder Erhängen, die häufiger zum "Erfolg" führen; zweitens würden sie es auch als beschämender erfahren, einen Suizidversuch zu überleben: Noch nicht einmal das könnten sie richtig machen. Frauen griffen hingegen zu weniger "erfolgreichen" Methoden wie Tabletten oder Schnittwunden und verwendeten solche Versuche eher als Hilferuf, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie eine auf die Biologie beschränkte Sichtweise in der Psychiatrie sogar Menschenleben kosten kann: Indem Forscher lange am falschen Ort suchen und psychosoziale Erklärungen außer Betracht lassen.

Das soziale Gesicht der Depressionen

Einen letzten deutlichen Befund ergibt ein Blick auf den sozio-ökonomischen Status (SES), mit dem Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Depressionen untersuchen. Die eingangs erwähnte Studie des Robert-Koch-Instituts zeichnet hier ein bedrückendes Bild, dass es sich dabei vor allem um eine Störung armer Frauen handelt:

Bei Frauen fällt die Anzahl der Diagnosen einer Depression innerhalb der letzten zwölf Monate von 12,9% (niedriger SES, blau) auf 7,0% (mittlerer SES, rot) und 5,5% (hoher SES, gelb) mit dem Wohlstand. Für Männer gibt es keinen solchen Effekt. Quellen: Zahlen des Robert-Koch-Instituts, 2013

Zwar belegt so ein Bild noch keinen kausalen Zusammenhang. Es könnte etwa sein, dass Frauen nicht depressiv werden, weil sie arm sind, sondern dass sie umgekehrt arm werden, weil sie depressiv sind. Das würde aber zumindest die Frage aufwerfen, warum es keinen vergleichbaren Effekt bei Männern gibt. In welche Richtung die Ursache-Wirkung-Beziehung hier auch weist, die Abbildung macht ein weiteres Mal deutlich, dass Depressionen ein psychosoziales Gesicht haben.

Eine heikle Frage der Interpretation

Denselben Befund haben wir bereits bei der Diskussion der Frühberentungen wegen psychischer Störungen gehabt: Die betrafen vor allem Hartz-IV-Empfänger - und auch darunter vor allem Frauen. Man möge nun selbst den Unterschied dieser beiden Interpretationen der Kausalität betrachten und vergleichen: Armut macht depressiv. Oder: Depressionen machen arm.

Hegerl behauptet dies zwar nicht, geht jedoch sehr weit mit seiner Vermutung, dass Depressionen arbeitslos machten und nicht umgekehrt Arbeitslosigkeit depressiv. An der Interpretation hängt sehr viel für die Fragen von Verantwortung, vielleicht sogar Schuld, sozialer Gerechtigkeit und der Ausgestaltung von Präventions- und Hilfsangeboten. Wo man die Ursache verortet, im Individuum oder in der Gesellschaft, hat also große gesellschaftspolitische Auswirkungen. Wer sich hier deutlich für eine Interpretation entscheidet, der muss schon über sehr gute Argumente verfügen.

Unhaltbare Schlussfolgerungen

Das ist beim Standpunkt der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und ihres Vorsitzenden, Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig, aber nicht der Fall. Wie wir gesehen haben, sprechen die wissenschaftlichen Daten deutlich für die psychosoziale Sichtweise, während die genetische Veranlagung nach heutigem Kenntnisstand nur wenig beiträgt. Die Schlussfolgerung der Stiftung, die Bevölkerung müsse biologische Faktoren als relevanter, psychosoziale als weniger relevant ansehen, lässt sich jedenfalls nicht halten.

Dass die Medien, etwa das ZDF, der SWR, der Focus, Spiegel Online, die Welt oder Radio Berlin Brandenburg die Pressemitteilung der Deutschen Stiftung Depressionshilfe in Zusammenarbeit mit der Deutsche Bahn Stiftung kritiklos übernehmen und hier ohne wissenschaftliche Notwendigkeit eine arbeitgeberfreundliche, neoliberale Haltung einnehmen, wirft kein gutes Bild auf sie. Auch war keine der genannten Redaktionen bisher dazu bereit, ihre Berichterstattung zu überdenken.

Wahrlich: Depressionen sind ein politisch brisantes Thema.