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Geht es nach der SPD sollen künftig gesetzliche und private Krankenkassen in einer Bürgerversicherung zusammengehen.

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Große Koalition: SPD beharrt auf der Bürgerversicherung

Die SPD fordert eine Bürgerversicherung, der mögliche Koalitionspartner Union hält nichts davon. Worüber streiten die beiden Parteien? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Mehr oder weniger zögerlich freunden sich Union und SPD mit dem Gedanken an, die große Koalition fortzusetzen. Schon deuten sich größere Streitpunkte an. Einer ist die Forderung der SPD nach einer Bürgerversicherung für alle.

Macht die SPD die Bürgerversicherung für die Union zur Koalitionsbedingung?

Im Moment sieht es danach aus – wobei über die Umsetzungsschritte im Detail noch zu reden sein dürfte. Dass die SPD ganz darauf verzichtet, ist nicht zu erwarten. Sie hat bei dem Thema ja schon 2013 einen Rückzieher gemacht, um mit der Union koalieren zu können. Druck übt etwa der mächtige SPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen aus. Zu den Kernforderungen für Sondierungsgespräche gehöre auch „eine paritätisch finanzierte Bürgerversicherung“, heißt es in einem Brief an Parteichef Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles. Es handle sich dabei um ein „zentrales Anliegen“ der SPD, betonte auch Parteiexperte Karl Lauterbach. „Wir wollen eine Bürgerversicherung mit einem gemeinsamen Versicherungsmarkt ohne Zwei-Klassen-Medizin.“ Wenn bei solchen und anderen Gerechtigkeitsfragen nichts erreicht werde, gebe es „nicht den Hauch einer Chance, dass die SPD-Mitglieder einem Koalitionsvertrag zustimmen würden“.

Was genau will die SPD?

„Wir wollen alle Bürgerinnen und Bürger auf die gleiche Weise versichern“, heißt es im Wahlprogramm der SPD. „Alle erstmalig und bislang gesetzlich Versicherten werden wir automatisch in die Bürgerversicherung aufnehmen.“ Dazu zählten auch Beamte, für die dort ein beihilfefähiger Tarif geschaffen werden soll. Die öffentlichen Arbeitgeber könnten dann wählen, ob sie für ihre Beamten einen Arbeitgeberbeitrag zahlen oder wie bisher einen Teil der Behandlungskosten direkt übernehmen. Anders als vielfach unterstellt will die SPD aber weder die private Krankenversicherung (PKV) abschaffen noch deren Kunden in gesetzliche Kassen zwingen. Die bereits privat Versicherten (knapp neun Millionen) könnten künftig frei wählen – freilich mit dem Nachteil, dass sich der Verbleib in den Privatkassen, denen die jungen und gesunden Versicherten ausgehen, deutlich verteuern dürfte. Und bei Ärzten wären privat Versicherte auch nicht länger privilegiert. Das Honorar für die Behandlung von Kassen- und Privatpatienten soll sich nicht mehr unterscheiden.

Was hält die Union davon?

Nichts. Das alte System habe sich bewährt, heißt es in ihrem Wahlprogramm. „Die Einführung einer sogenannten Bürgerversicherung lehnen wir ab.“ Eine Abschaffung der PKV würde alle Versicherten teurer zu stehen kommen, warnte CDU-Vize Julia Klöckner. Unionsfraktionschef Volker Kauder empfahl beiden Seiten Zurückhaltung. „Wenn der eine sagt Bürgerversicherung, sagt der andere Nein.“ Man sei „nicht auf dem Jahrmarkt, wo es darum geht, herauszuschreien, was man möchte, und der andere schreit was anderes.“ Und der frühere Gesundheitsexperte Jens Spahn lieferte sich mit Lauterbach via Twitter schon mal ein kleines Gefecht. „Sie denken, dass Sie mit 20 Prozent die Bedingungen für 100 Prozent SPD diktieren können“, schrieb er seinem Kontrahenten. „So wird das nichts.“

Würde es für gesetzlich Versicherte in der Bürgerversicherung billiger oder teurer?

Hier steht Aussage gegen Aussage. Die SPD stellt sinkende Beiträge in Aussicht, die PKV behauptet, dass es „drastisch teurer“ werde. Entscheidend dafür dürfte sein, ob die Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird oder nicht. „Weite Teile“ der SPD wollten das, behaupten die Versicherer. Kostensteigernd dürfte sich natürlich der geplante finanzielle Ausgleich für Ärzte auswirken. Und eine bessere und gerechtere Versorgung, wie von den Sozialdemokraten mit dem Projekt verbunden, ginge wohl ebenfalls ins Geld. Dies würde aber, sagt Lauterbach, „mehr als kompensiert durch die vielen Gutverdiener“, die aus der PKV in die Bürgerversicherung wechseln würden.

Was sagen die privaten Krankenversicherer zu den SPD-Plänen?

Sie warnen eindringlich davor. Deutschland habe „wichtigere Probleme als eine willkürliche Radikalreform an unserem gut funktionierenden Gesundheitswesen“, sagte PKV-Chef Uwe Laue. Die Debatte geht aber aneinander vorbei, weil die PKV der SPD mit dem Bürgerversicherungskonzept in Rundumschlägen etwas unterstellt, was die Sozialdemokraten erklärtermaßen gar nicht wollen: eine Einheitsversicherung. Ein zwölfseitiger Verbands-Flyer mit dem Titel „Vorsicht, Einheitskasse!“ warnt genau davor. „Die Folgen eines solchen Einheitssystems wären weniger Wettbewerb, weniger Selbstbestimmung und ein eingeschränkter Leistungskatalog für alle“, heißt es darin. Die Erfahrung in anderen Ländern zeige, dass in solchen Einheitssystemen nur Menschen einen Zugang zur Spitzenmedizin erhielten, die es sich leisten könnten. „Das wäre der Beginn einer echten Zwei-Klassen-Medizin.“ Lauterbach nennt das Hetze. In einer Bürgerversicherung gebe es „nicht nur eine Kasse, sondern mehr als 120 Anbieter“, betont er. Auch die PKV könne ein solches Versicherungsprodukt anbieten. Und dies sei dann nicht der Beginn, sondern „das Ende der Zwei-Klassen-Medizin“. Schließlich bestehe dieses Problem im bisherigen System, das man abschaffen wolle. Kassenpatienten kämen dort „oft nicht an Spezialisten oder warten sehr lange auf einen Termin bei ihnen“.

Was würde eine Bürgerversicherung für die Mediziner bedeuten?

Womöglich Honorareinbußen, vielleicht aber auch eine bessere Anerkennung schlechter gestellter Berufsgruppen wie etwa der Hausärzte. Bisher erhalten niedergelassene Mediziner deutlich mehr Geld für Privatpatienten – und zwar auch für Leistungen, die sich von denen für Kassenpatienten nicht unterscheiden. Eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der PKV hat die Differenz beziffert: Wenn alle Privatpatienten gesetzlich versichert wären, hätten die Leistungserbringer im Jahr 2014 demnach 12,45 Milliarden Euro weniger eingenommen. Allerdings will die SPD solche Einbußen komplett ausgleichen. „Wir sorgen dafür, dass den Ärzten in der Summe keine Honorare durch die Hintertür gekürzt werden“, sagte Lauterbach im Sommer dem Tagesspiegel.

Das schließt finanzielle Umverteilung nicht aus. Laborärzte und Radiologen mit vielen Privatversicherten kämen bei einer Bürgerversicherung wohl auf deutlich weniger Umsatz. Hausärzte und Fachärzte auf dem Land würden dagegen profitieren. Man wolle das Geld ja gerechter verteilen, sagt Lauterbach. Es sei „ungerecht, dass ein Laborarzt heute im Schnitt fünfmal so viel verdient wie ein Hausarzt“. Die Privatversicherer  dagegen warten, weil sie von keinem Ausgleich ausgehen, mit Schreckenszahlen auf. Im Falle einer Bürgerversicherung würden allein die niedergelassenen Ärzte im Jahr über sechs Milliarden Euro einbüßen, rechnen sie vor. Damit würde jede Arztpraxis im Schnitt mehr als 50.000 Euro pro Jahr verlieren. Auch Hebammen, Physiotherapeuten und Zahnärzte wären demnach in ihrer Existenz gefährdet.

Den Funktionären ist das Bürgerversicherungsexperiment nicht geheuer. Die SPD versuche, „unser leistungsstarkes System aus den Angeln zu hebeln“, sagte Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. „Was uns als gerechtere Alternative zum dualen Krankenversicherungssystem angeboten wird, ist in Wirklichkeit der direkte Weg in die Zwei-Klassen-Medizin.“ Mit ihren hohen Leistungsversprechen setze die PKV bisher auch die gesetzlichen Kassen „unter Zugzwang“ und sichere so auch deren Mitgliedern einen hohen Versorgungsstandard. Das müsse so bleiben.

Wo lägen Kompromissmöglichkeiten?

Der SPD-Politiker Edgar Franke, im bisherigen schwarz-roten Bündnis Chef des Gesundheitsausschusses, kann sich eine Stufenlösung vorstellen, die der Union vielleicht nicht gleich das große Bauchgrimmen bereitet. Dazu würde gehören: eine Honorarordnung mit gleichen Honoraren für gleiche Leistung, mit denen man ein Rosinenpicken der Ärzte ebenso verhindern wie dem Ärztemangel in ländlichen Regionen gegenwirken könnte. Und die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung, bei der Arbeitnehmer und Arbeitgeber den gleichen Beitrag zahlen. Unwahrscheinlich dagegen ist es, dass die SPD den Privaten gleich auch die Altersrückstellungen für die Bürgerversicherung abzuknöpfen versucht. Eigentlich gehören die 233 Milliarden Euro nämlich den Versicherten. Wenn überhaupt, hätte wohl das Bundesverfassungsgericht über den Transfer dieser Gelder zu entscheiden.

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