Justiz & Polizei

Eine neue Studie behauptet: Auf Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit können Kunden sich nicht verlassen

Ob eine Versicherung ihre berufsunfähigen Kunden tatsächlich auszahlt, gleicht einem Würfelspiel. Denn die Verträge sind so unverbindlich formuliert, dass Versicherungen im Zweifel fast immer eine Möglichkeit finden, die Zahlung zu verweigern. Das ist das Ergebnis der Umfrage des Informationsdienstleisters „PremiumCircle Deutschland“. Er bescheinigt der Berufsunfähigkeitsversicherung deshalb Marktversagen. Die Versicherungswirtschaft bezweifelt die Aussagekraft der Studie.

von Daniel Drepper , Justus von Daniels

© Ivo Mayr

Diese Recherche veröffentlichen wir in Kooperation mit Spiegel Online.


Sie ist für den Notfall gedacht: wenn der Rücken chronisch schmerzt oder die Hand dauerhaft geschädigt ist. 25 Prozent aller Deutschen haben eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Sie soll den Lebensunterhalt absichern, wenn man seinen erlernten Beruf nach einer Verletzung oder Krankheit nicht mehr ausüben kann. Doch ob die Versicherung tatsächlich zahlt, können weder Kunden noch Vermittler vorab einschätzen, so das Ergebnis einer Studie zu Berufsunfähigkeitsversicherungen. 

Wie häufig Versicherte einen Schadensfall anerkannt bekommen, schwankt der Studie zufolge extrem: Einige Versicherungen lehnten jeden siebten Antrag auf Berufsunfähigkeit ab, andere dagegen jeden zweiten. Enorme Unterschiede, trotz gleicher rechtlicher Bedingungen. Auslöser sind der Studie zufolge mehrere hundert schwammige Begriffe in den Verträgen der Versicherer und intransparentes Leistungsverhalten der einzelnen Versicherungen. Die Bürger seien „faktisch orientierungslos“, sagt PremiumCircle-Geschäftsführer Claus-Dieter Gorr.

Die Vermittler solcher Versicherungen würden im Prinzip Interpretationen verkaufen, von denen sie nicht wissen könnten, ob sie im Leistungsfall zutreffen. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung sei deshalb oftmals nicht mehr als eine Option, die Versicherung zu verklagen, kritisiert Gorr. 

Für die Studie befragten die Autoren im vergangenen Herbst 62 Versicherungen. 15 Konzerne lieferten Daten für das Jahr 2014, darunter die HDI, die Targo und die Signal/IDUNA. Unternehmen wie die Allianz, die ERGO und die HUK lehnten es dagegen ab, sich an der Studie zu beteiligen. Die Ergebnisse stellt PremiumCircle am Dienstag auf einer Tagung in Frankfurt vor.

Versicherungssuche „gleicht einem Würfelspiel“

Zwischen einem und sieben Monaten brauchen Versicherer demnach im Schnitt, um einen Antrag zu entscheiden. Und auch bei einer Klage gegen die Versicherung unterscheiden sich die Konzerne erheblich. Einige Versicherer gewinnen alle Klagen, andere verlieren in mehr als 80 Prozent vor Gericht. Sie lassen es offenbar auf eine Klage ankommen, anstatt schnell zu zahlen. „Die richtige Versicherung zur Berufsunfähigkeit abzuschließen, gleicht einem Würfelspiel“, sagt Claus Dieter Gorr.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft veröffentlicht selbst nur Mittelwerte all seiner Mitgliedsunternehmen. Die Unterschiede zwischen einzelnen Versicherern bezeichnet Pressesprecher Christian Ponzel in einer Stellungnahme als „nicht aussagekräftig“. 

Ein Grund für die großen Unterschiede ist Informationsdienstleister Gorr zufolge, dass die Versicherer zu große Spielräume in ihren Verträgen hätten. 321 unbestimmte Begriffe finden sich laut der Analyse in den Bedingungen der Versicherer. Versicherungen müssen beurteilen, ob ein Schaden es dem Versicherten tatsächlich unmöglich macht, seinen Beruf weiter auszuüben. Und ob eine Krankheit nicht schon seit der Kindheit vorliegt. Oder sie verpflichten den Kunden dazu, bei Leistungsbezug quasi jede Verbesserung seiner Gesundheit mitzuteilen. Das könne theoretisch auch schon der Fall sein, wenn der Versicherte nur noch zwei statt drei Tabletten einnehmen muss, sagt Gorr. Damit hätten die Versicherungen genug Spielraum, diese Verträge zu ihren Gunsten auszulegen – und eine Rente im Zweifel abzulehnen. „Bei Vertragsabschluss lässt sich nicht erkennen, was eine Versicherung abdeckt“, sagt Gorr. Die Verträge seien schwammig formuliert. 

Im Zweifel gegen den Versicherten?

„Diese Argumentation ist abwegig“, sagt Peter Schwark, der beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft für die Altersvorsorge zuständig ist. Die Versicherer müssten solche „unbestimmten“ Begriffe verwenden, weil Berufsunfähigkeitsversicherungen auch in 30 Jahren noch Bestand haben müssen. „Versicherungen nutzen solche Dinge nicht willkürlich, um Kunden auflaufen zu lassen.“ Dem Autor der Studie wirft Schwark vor, eigene finanzielle Interessen zu haben und nur deshalb eine solche Studie zu veröffentlichen, um einen Markt für seine Beratungsleistungen zu schaffen.

Informationsdienstleister Gorr sagt, die Verbraucher hätten keine Chance, zu erkennen, welche Versicherung wirklich die Beste für sie ist. Für Versicherungen sei es zum Beispiel viel zu einfach, in öffentlichen Rankings Bestnoten zu bekommen. Die Werbung für solche Berufsunfähigkeitsversicherungen sei „weitgehend irreführend“. Auch weil nur jeder Vierte eine Berufsunfähigkeitversicherung hat, sieht Gorr „quasi ein Marktversagen“ in der Versicherungsbranche.

Unterstützung bekommt Gorr von Rechtsanwalt Joachim Laux, dessen Berliner Kanzlei sich darauf spezialisiert hat, Verbraucher bei Klagen gegen Versicherer zu unterstützen. Er schätzt die Leistungen der Versicherungen als noch viel schlechter ein. Die Bearbeitungsdauer der Verfahren sei sehr viel länger als in Gorrs Studie – und auch die Ablehnungsquote „dürfte bei allen Versichern deutlich über 50 Prozent liegen“. Rechtsanwalt Laux und seine Kollegen machen nach eigenen Angaben tägliche die Erfahrung, „dass sich BU-Versicherer sowohl bei Abschluss von Versicherungen als auch im Leistungsfall grundsätzlich sehr höflich, in der Sache aber intransparent, ausforschend und hinhaltend, im Ergebnis also unangemessen verhalten.“

Die Linke: Gesetz muss überarbeitet werden

Bis ins Jahr 2000 war die Berufsunfähigkeitsversicherung noch staatlich organisiert, erst danach wurde sie unter der rot-grünen Bundesregierung privatisiert. „Die Privatisierung zeigt besonders eindringlich, dass die private Absicherung existenzieller Risiken in der Regel auf Kosten der Versicherten geschieht“, schreibt die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermannn, Rentenexpertin der Partei Die Linke. Das Versicherungsvertragsgesetz müsse überarbeitet werden, „einerseits um die rechtlich unklaren Begriffe zu schärfen, andererseits um die Transparenz zu erhöhen.“

„Je risikoreicher ein Beruf ist, umso teurer ist der Tarif für die Berufsunfähigkeitsversicherung. Das macht die Absicherung für viele Berufsgruppen kaum bezahlbar bzw. sie bekommen gar keine Versicherung angeboten“, schreibt die Bundestagsabgeordnete Elvira Drobinski-Weiß, verbraucherpolitische Sprecherin der SPD. Zu den Ergebnissen der neuen Umfrage wollte sie sich vor Beratungen mit ihren Parteikollegen nicht äußern.

Das Bundesjustizministerium sieht derzeit keinen Grund, die bestehende Praxis zu ändern. In juristischen Texten werde „oft mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet“, so ein Sprecher des Ministeriums. Auch eine gesetzliche Versicherung lehnt das Ministerium ab, weil ein Großteil der Bevölkerung diesen Schutz nicht wahrnehme. „Eine Versicherungspflicht zur Lösung bestehender Problemfälle erscheint unverhältnismäßig. Es gibt derzeit auch keine Pläne in diese Richtung.“ 

Gorr sieht dagegen konkreten Handlungsbedarf: Versicherungen sollten transparenter werden, die Leistungsbedingungen damit leichter vergleichbar sein. Von der Politik fordert er klare Regeln für Verträge, damit die Versicherer zu konkreten Aussagen in den Verträgen gezwungen werden. Auch für Ratings von Versicherungen sollten Bedingungen festgelegt werden, die am Interesse des Verbrauchers ausgerichtet sind.


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