Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe erklärt im Interview, wie die Digitalisierung die medizinische Versorgung revolutioniert.

Stuttgart - Big Data erfasst das Gesundheitswesen. Der zuständige Bundesminister Hermann Gröhe sieht große Chancen und hält Risiken für beherrschbar.

 
Herr Gröhe, lange haben sich die Ärzte mit den Megathemen E-Health und Digitalisierung im Gesundheitswesen schwer getan. Exemplarisch dafür steht der Widerstand gegen die elektronische Gesundheitskarte. Hat die Ärzteschaft die Zeichen der Zeit inzwischen erkannt?
Da bin ich sicher. Denn Digitalisierung und E-Health sind zentrale Themen für das Gesundheitswesen. Wenn wir über bessere Zusammenarbeit zwischen ambulanter und stationärer Versorgung oder kluge Arbeitsteilung zwischen Krankenhäusern reden, dann sind digitale Anwendungen unverzichtbar, um den sicheren Austausch von medizinischen Daten zu gewährleisten. Weder medizinische Versorgung noch Forschung sind heute ohne die Erhebung und Auswertung großer Datenmengen denkbar.
Auch weil Sie Dampf beim Thema E-Health gemacht haben, beginnt zur Jahresmitte eine neue Zeitrechnung. Die Video-Sprechstunde beim Haus- oder Facharzt ist dann möglich – zunächst als reine Folgebehandlung, wenn der Arzt den Patienten schon einmal gründlich untersucht hat. Was versprechen Sie sich davon?
Die Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen befindet sich im Aufbau, ein Schlüsselelement ist die elektronische Gesundheitskarte. Ich möchte, dass der Nutzen jetzt endlich bei den Patienten ankommt. Deshalb sind Anwendungen wie der Medikationsplan oder die Notfalldaten, die auf der Karte hinterlegt sind, so wichtig. Diese neuen Möglichkeiten können im Ernstfall sogar Leben retten. Die Video-Sprechstunde für Nachsorgetermine ist ein gutes Beispiel dafür wie die ärztliche Behandlung unterstützt werden kann. Sie erleichtert den Arztkontakt und erspart Patienten Wege für Kontrolltermine. Das kann gerade für ältere Menschen, chronisch Kranke, aber auch in ländlichen Regionen eine wichtige Hilfe sein.

„Viele Ärzte sehen in der Digitalisierung große Chancen“

Wie groß ist nach Ihrer Einschätzung das Interesse der Ärzteschaft, auf freiwilliger Basis mitzumachen, speziell bei der Video-Sprechstunde?
Es gibt viele Ärzte, die in der Digitalisierung große Chancen sehen – und das sind nicht nur jüngere Mediziner. Einige befürchten eine Schwächung des Kontakts zum Patienten. Andere – so wie ich auch – erwarten eher das Gegenteil: Der persönliche Kontakt zum Arzt soll nicht durch digitale Anwendungen ersetzt, sondern sinnvoll ergänzt werden.
Und wie geht’s aus?
Der Alltag in Arztpraxen und Kliniken ist längst ohne IT undenkbar geworden. Die Frage, ob die Digitalisierung künftig eine wesentliche Rolle in der Gesundheitsversorgung spielt, ist also bereits entschieden. Jetzt geht es darum, dass wir uns darüber verständigen, wie die Digitalisierung sicher gestaltet wird und mit ihrer Unterstützung das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gestärkt werden kann. Ich sehe in den Stellungnahmen der Ärzteschaft inzwischen den starken Willen, diesen Prozess aktiv mit zu gestalten. Das begrüße ich.
In der Schweiz sind Video-Sprechstunden bereits alltäglich, Anbieter wie Medgate sind längst ein fester Bestandteil der Versorgung. Ein Beispiel für Deutschland?
Modelle im Ausland können lehrreich sein, sind aber nicht immer übertragbar. Wir verfügen, auch im Vergleich mit anderen Ländern, glücklicherweise über eine gute medizinische Versorgung. Bei uns geht es eben nicht darum, durch die Video-Sprechstunde den Zugang zum Arzt erst zu ermöglichen. Wir haben eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, die weiter stark von freiberuflich tätigen Haus- und Fachärzten geprägt sein wird. Unser Ziel ist, dass sich die Menschen – in der Stadt und auf dem Land – auch in Zukunft darauf verlassen können.
Ärzte und Krankenkassen haben jahrelang gegen Big Data im Gesundheitswesen gemauert. Deshalb erfolgt der Einstieg Deutschlands spät – vielleicht schon zu spät? Der digitale Leibarzt – gemeint sind Tracker, Wearables, Apps mit Fitness- und Gesundheitsanwendungen – ist ja längst allgegenwärtig.
Nein, es ist nicht zu spät. Mit unseren modernen Behandlungsmöglichkeiten gehören wir weltweit zur Spitze. Wir müssen aber noch besser werden, wenn es darum geht, Netze und Dienstleistungen miteinander zu verknüpfen. Diese Herausforderung stellt sich auch in anderen Ländern, etwa in Amerika. Wir in Deutschland wollen mit der Telematikinfrastruktur alle Leistungsanbieter und gesetzlich Versicherten miteinander verbinden. Wenn wir unser medizinisches und technisches Können mit unserer hohen Wertschätzung für den Datenschutz zusammenbringen, dann können wir etwas entwickeln, das Vorbild auch für andere ist. Davon bin ich überzeugt.

„Es muss auch ein Recht auf Nichtwissen geben“

Die Chancen gelten als riesig – wie kann der kranke Mensch profitieren? Steht am Ende eine personalisierte Medizin, die aus der vergleichenden Analyse von Milliarden Datensätzen maßgeschneiderte Therapien ermöglicht?
Ja, das wird es geben. Wir sind bei der Behandlung von Krebs längst so weit, dass wir Tumore durch eine genaue Gen-Analyse zielgenau bekämpfen können. Daran knüpfen sich große Hoffnungen auf Heilung, aber natürlich wirft das auch neue Fragen auf. Wenn sich ein Erkrankungsrisiko für eine Krankheit, die noch nicht behandelbar ist, durch neue Methoden früh bestimmen lässt, dann muss es auch ein Recht auf Nichtwissen geben.
Mehr als 100 000 Gesundheitsapps sind inzwischen auf dem Markt. Manche Experten vermissen klare gesetzliche Vorgaben. Muss man die Menschen nicht besser schützen?
Zunächst einmal sehe ich eine Fülle von Möglichkeiten, beispielsweise mit Blick auf tragbare Geräte, die sogenannten Wearables. Wir werden allerdings zu unterscheiden haben, ob es sich um Geräte zur medizinischen Prävention, Diagnose und Behandlung handelt – oder eher um Fitnessgimmicks.
Was bedeutet das?
Niemand möchte den Schrittzähler gesetzlich regeln. Aber wenn sie als Diabetiker eine App nutzen, die den Insulinspiegel ausgleichen soll, dann muss das den Sicherheitserfordernissen eines Medizinprodukts Rechnung tragen. Das ist völlig klar. Einige Anwendungen werden auch schon von den Krankenkassen bezahlt. Darunter ist zum Beispiel eine App, die bei der Behandlung von Tinnitus hilft. Wir bringen gerade App-Entwickler und Genehmigungsbehörden, wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, zusammen, damit die Entwickler wissen, worauf sie achten müssen.
Die gesammelten Datenmengen stellen einen ungeheuren Schatz dar. Mancher Versicherer schielt darauf. Wie stellen Sie sicher, dass Daten nicht missbraucht werden?
Auch den Krankenkassen, die digitalen Anwendungen gegenüber offen sind, ist klar, dass die tägliche Schrittzahl eines Versicherten keinen Einfluss auf die Tarifgestaltung haben darf. Denn eine Schlechterstellung von älteren und kränkeren Versicherten verbietet sich in unserem solidarischen Gesundheitswesen. Davon werden wir nicht abweichen. Wir wissen heute mehr denn je darüber, wie das eigene Verhalten die Gesundheit beeinflussen kann. Deshalb sollten die Menschen nicht bestraft, sondern ermutigt werden, sich ausreichend zu bewegen und gut zu ernähren. Wenn wir Digitalisierung gut machen, kann sie dazu einen großen Beitrag leisten.

„Wir brauchen mehr Mannschaftsspiel zum Nutzen der Patienten“

Sie haben einen Innovationsfonds aufgelegt und fördern damit auch eine Reihe von telemedizinischen Projekten. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Brücken statt Mauern – das ist der Kerngedanke. Unser Gesundheitswesen ist hoch spezialisiert, das begünstigt die Gefahr von Abschottung. Wir brauchen mehr „Mannschaftsspiel“ aller Beteiligten zum Nutzen der Patienten. Dazu gibt es eine Reihe von Modellprojekten, aus denen wir lernen wollen, wie man die Regelversorgung weiter verbessern kann.
Haben Sie ein Beispiel aus Baden-Württemberg?
Wir fördern mit dem Innovationsfonds ein Projekt der Kassenärztlichen Vereinigung mit Krankenkassen und anderen Partnern, bei dem es darum geht, Klinikeinweisungen von pflegebedürftigen Menschen aus dem Pflegeheim heraus zu vermeiden. Denn es ist für pflegebedürftige Menschen oftmals eine große Belastung, wenn sie für eine Behandlung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in ein Krankenhaus verlegt werden. Es geht bei dem Projekt daher um ein Team von niedergelassenen Haus- und Fachärzten, die in engem Kontakt zu den Pflegekräften im Heim stehen und sich zusammen um die bestmögliche medizinische Versorgung der pflegebedürftigen Menschen kümmern. Das ist ein vielversprechender Ansatz, denn er stellt den pflegebedürftigen Patienten in den Mittelpunkt.