Bild nicht mehr verfügbar.

Der Werther-Effekt wirkt weitaus komplexer als oft angenommen. Im Bild: eine Erstausgabe von Goethes "Die Leiden des Jungen Werthers" aus dem Jahr 1774.

Foto: APA/dpa/Boris Roessler

Halbwissen ist oft gefährlicher als Nichtwissen. Werther-Effekt? Ja ja, schon mal gehört: Wird über einen Suizid berichtet, töten sich in der Folge mehr Menschen selbst. So wie damals, als Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" erschien. Also: Über Suizide wird nicht berichtet. Stimmt. Fast.

Der 10. September ist Welttag der Suizidprävention. Wenn es darum geht, Suizide zu verhinden, müssen auch wir Journalisten unsere Verantwortung wahrnehmen – das bedeutet in diesem Fall, sich vom alten Stehsatz "Über Suizide schreibt man nicht" zu verabschieden.

Drei gute Gründe

Das Dogma des Schreibverbots hält sich unter Journalisten. Dabei gibt es drei gute Gründe dafür, es aus den Redaktionen zu verbannen.

  1. Die Regel, überhaupt nicht zu berichten, war nie wissenschaftlich fundiert. Wer sich intensiver mit Suizidologie auseinandersetzt, weiß, dass die Ereigniskette "Suizidbericht führt zu Suizid" so vereinfacht nicht haltbar ist.
  2. Manchmal müssen wir über einen Suizid berichten – zum Beispiel, wenn es um einen Prominenten geht. Und wenn "nicht berichten" die einzige Regel ist, die wir kennen, kann das nicht gut ausgehen. Verantwortungsbewusste Berichterstattung über Suizide ist komplizierter.
  3. Wenn wir nur über prominente oder spektakuläre Suizide schreiben, über das große gesellschaftliche Problem dahinter und die Suizidalität an sich aber schweigen, stigmatisiert das Betroffene. Es verschlimmert das Trauma der Hinterbliebenen, und es hält Menschen in Krisen davon ab, Hilfe zu suchen.

Die wissenschaftliche Grundlage: Bestimmte Berichte führen zu Nachahmungen, andere nicht

Eines nach dem anderen. Tatsächlich führen bestimmte Medienberichte über Suizide zu Nachahmungen. Menschen in Krisen befinden sich oft in einer Phase "quälender Orientierungslosigkeit", wie es im Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid des Wiener Kriseninterventionszentrums heißt. Wenn man über Suizid schreibt, ist allerdings das Wie von weitaus größerer Bedeutung als das Ob.

Viele Medienberichte über Suizide haben keinerlei messbare Auswirkung auf die Suizidstatistik. Manche Berichte treiben die Zahl der Suizide in die Höhe – und viele können Suizide verhindern. Vor allem in Wien wird zu diesem Thema seit Jahrzehnten intensiv geforscht. Gut bekannt ist die Studie zu den Wiener U-Bahn-Suiziden: Als sich Anfang der 1980er immer mehr Personen in U-Bahn-Stationen selbst töteten, überzeugten Wiener Wissenschafter die großen Tageszeitungen davon, die Berichterstattung massiv zurückzufahren. Die Folge war ein deutlicher Rückgang der U-Bahn-Suizide.

"Harmful" gegen "protective"

Seitdem hat sich in der Forschung einiges getan: Wiener Wissenschafter (einige davon haben schon in den 80ern an der erwähnten Studie mitgearbeitet) haben 2010 im "British Journal of Psychiatry" einen Artikel veröffentlicht, in dem sie Medienberichte analysierten und mit der amtlichen Sterbestatistik in Zusammenhang setzten. Das Ergebnis dieser und vieler anderer Studien krempelt das Dogma "Über Suizide schreibt man nicht" gewaltig um.

Die Forscher haben den untersuchten Artikeln Eigenschaften zugewiesen: Wurde die Suizidmethode erwähnt? War der Text mit einem Foto illustriert? Wurde der Suizid vereinfacht begründet (zum Beispiel: "Selbstmord wegen Liebeskummer")? Diese Eigenschaften wurden als "harmful", schädlich, eingeordnet. Umgekehrt codierten die Autoren auch "protective items": Wurde eine Expertin oder ein Experte zitiert? Wurden Hilfsangebote für Menschen in Krisen angeführt?

Die Rolle der Journalisten präsentiert sich im Licht aktueller Studien weitaus vielschichtiger, als es der viel zu einfache Stehsatz des Berichtsverbots vermuten ließe: Je nachdem, wie über einen Suizid berichtet wird, können Medien die Zahl der Nachahmungssuizide steigern – oder senken.

Manchmal können wir nicht anders

Jetzt könnte man sagen: Berichten wir am besten gar nicht, dann können wir nichts falsch machen. Dieser Zugang hat nur einen großen Haken. Denn der Stehsatz "Über Suizid berichten wir nicht" funktioniert nicht lückenlos. Und er filtert genau die falschen Berichte heraus. Etwa drei Personen töten sich jeden Tag in Österreich selbst, über die allerwenigsten liest man in der Zeitung. Zu Recht, im Sinne der Zurückhaltung, allerdings meistens nicht aus Verantwortungsbewusstsein, sondern weil ein so alltäglicher Tod eben "keine Geschichte" ist.

Aber ein Prominenter? Na ja, das können wir doch nicht verschweigen! Und weil wir ja normalerweise nicht über Suizide berichten, wissen wir jetzt nicht, wie wir's richtig machen. Dann wird im Boulevard über mehrere Tage im Detail ausgeschlachtet, wie Robin Williams gestorben ist. Oder wie genau Ludwig Hirsch starb, nacherzählt aus "seiner" Perspektive.

Das Bitter-Ironische: In der Statistik messbare Nachahmungen sind hauptsächlich bei Prominenten feststellbar – wohl, weil sich die Menschen gerne mit ihnen identifizieren. Wird der Suizid einer unbekannten Person nicht gerade pathetisch und detailreich nacherzählt, ist die Identifikationsgefahr gering.

Wir müssen über Suizidalität sprechen und schreiben

Wir müssen – als Gesellschaft – über Suizid sprechen. Jedes Jahr töten sich in Österreich 1.200 bis 1.300 Menschen selbst. Suizid ist kein Thema, über das man schweigen kann. Jeder dieser Menschen hatte Freunde, Familie, Kollegen. Das sind viele tausend neue Betroffene, jedes Jahr. Weil die Selbsttötung ein Tabu ist, leiden sie noch stärker.

Und wer an Suizid denkt, ist umso gehemmter, darüber zu sprechen. Dabei wäre genau das ein so wichtiger erster Schritt in der Prävention.

Werther- vs. Papageno-Effekt

Wie also berichten? Detaillierte Empfehlungen finden sich im erwähnten Leitfaden. Kernpunkt bleibt: Zurückhaltung. Richtige Suizidberichterstattung ist nicht einfach: Einerseits soll der Tod nicht vereinfacht erklärt werden – ein Suizid ist immer die Folge einer Vielzahl komplex zusammenspielender Probleme –, andererseits soll die individuelle Situation nachvollziehbar sein. Schnellschüsse wie "Selbstmord wegen Geldnot!" fallen also durch.

Genauso soll der Suizid nicht moralisch verurteilt werden. Das passiert in vielen Fällen ganz unbewusst. Dauernd "Suizid" zu schreiben ist kein schöner Stil und widerspricht der reinen Schule gegen die Wortwiederholung. Der Begriff "Selbstmord" aber macht Betroffene zu Tätern und verstärkt das Stigma, unter dem auch die Angehörigen von Verstorbenen leiden.

Umgekehrt suggeriert das Wort "Freitod" eine Freiheit, die in den allermeisten Fällen nicht vorherrscht: Suizidale Menschen sind alles andere als frei; sie sind gefangen in einer Abwärtsspirale, aus der sie meist nur mit fremder Hilfe ausbrechen können.

Die gute Nachricht

Wie oben erwähnt können Medien Nachahmungssuizide auch verhindern. Etwa indem auf Kontaktstellen für Hilfesuchende aufmerksam gemacht wird. Oder indem Mythen über Suizide bewusst angesprochen und widerlegt werden. Nein, wer ankündigt, sich selbst zu töten, bettelt nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern ist tatsächlich in akuter Gefahr. Circa 80 Prozent jener Personen, die Suizid begehen, haben das vorher angekündigt.

Apropos Mythen: Die "Suizidwelle" nach dem Erscheinen des "Werthers" konnte letztlich nie nachgewiesen werden. Gut erforscht ist hingegen, dass nach sensationsträchtigen Berichten in Massenmedien die Suizidzahlen steigen – und das Aufzeigen von Alternativen viele Menschen davon abhält, sich selbst zu töten.

Schreiben wir also über Suizid und über Suizidalität. Schreiben wir über eine der häufigsten Todesursachen weltweit, aber schlachten wir nicht die Details von Einzelfällen aus. Berichten wir – das hat sich in der aktuellen Forschung als besonders wirkungsvoll in der Verhütung von Selbsttötungen erwiesen – über Menschen, die eine Krise überwunden haben. Verzichten wir auf sensationelle Berichte, und üben wir uns in Zurückhaltung bei Details. Wir erreichen täglich Millionen Menschen, also nehmen wir unsere Verantwortung wahr. (Sebastian Fellner, 10.9.2015)