DDR-Fernsehen / Fernseh-Geschichte / Karl-Eduard von Schnitzler / Medien-Ikonen


Horst Rörig

'Hygiene im Äther' oder die verpaßte Realität
Karl-Eduard von Schnitzler und der 'Der Schwarze Kanal'



Abstract: Als sich Karl-Eduard von Schnitzler am 30.10.1989 mit seiner Sendung ‚Der Schwarze Kanal‘ nach fast dreißig Jahren vom Bildschirm verabschiedete, ging eine Ära des DDR-Fernsehens zu Ende. Wohl kaum ein zweiter Journalist der DDR erreichte jenen Bekanntheitsgrad, wohl kaum eine andere offizielle Stimme sorgte dauerhaft für ähnlich erhitzte Gemüter, wie die polemisch-aggressiven Haßtiraden von Schnitzlers. Trotz dieser Begebenheiten ist das ‘Phänomen’ dieser Wochenschau ins westliche Fernsehen bisher nur ungenügend ergründet, was sich auch daran zeigt, welches Interesse immer noch an der Person von Schnitzlers und seiner journalistischen Denkart besteht. Obwohl mittlerweile in Rente und keine offizielle Meinung mehr verkündend, wird Karl-Eduard von Schnitzler mit seinen mittlerweile 80 Jahren nicht müde, seine sozialistischen Gedanken weiter zu verbreiten.


”Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müßte, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen."

Mit diesen Worten begann Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator und Mitglied des Staatlichen Komitees für das Fernsehen der DDR, am 21.März.1960 jene Sendung, die unter dem Titel ‘Der Schwarze Kanal’ in die Geschichte des DDR-Fernsehens einging. Die Sendung war fast über dreißig Jahre hinweg nicht nur fester Bestandteil des ostdeutschen Fernsehprogramms, sie war vielmehr ein agitatorisches und politisches Instrument der SED-Machthaber. Der Name von Schnitzlers und der Titel ‘Der Schwarz Kanal’ sind untrennbar miteinander verbunden, ebenso wie die Sendung mit der DDR-Fernsehgeschichte und folglich auch mit der gesamtdeutschen Geschichte, denn die wöchentlich ausgestrahlte Sendung hatte mindestens ebensoviele Zuschauer im Westen (wenn nicht noch mehr), als im eigenen Land.

Die Person Karl-Eduard von Schnitzler zu beschreiben, seine Lebenslinien aufzuzeigen und seine immer noch überzeugte sozialistische Einstellung zu beleuchten, soll mit bescheidenem Ansatz hier versucht werden. Dabei kann oft nicht zwischen der Privatperson von Schnitzler und dem Moderator unterschieden werden, denn ‘Der Schwarze Kanal’ war seine Sendung, welche unmittelbar mit seinem Leben verknüpft ist. Eine Behandlung des ‘Schwarze(n) Kanal(s)’ ist immer auch Auseinandersetzung mit der Person ‘Karl-Eduard von Schnitzler’. Und andersherum.


Die Person Karl-Eduard von Schnitzler

Karl-Eduard von Schnitzler wurde am 28.April1918 in Berlin geboren. Sein Vater war ein hoher preußischer Beamter. Nach eigenen Angaben von Schnitzlers stammten seine Eltern aus Grefrath im Bergischen Land und wurden später eine großbürgerliche und mächtige Familie in Köln. Von Schnitzler war vom Elternhaus - schon allein durch das Adelsprädikat ”von” im Namenszug - ein gänzlich anderer Weg beschieden, als er ihn später beschritt. Nicht nur, daß seine Herkunft im krassen Gegensatz zu seiner späteren politischen, streng sozialistischen und antifaschistischen Auffassung stand, viele seiner engsten Verwandten waren machtpolitische Größen im Nazi-Deutschland und wurden später als Kriegsverbrecher verurteilt.

Und das Adelsprädiket ”von” ist auch heute noch in seinem Namenszug. In einer Anekdote erzählte er, daß er das Adelsprädikat bei Gründung der DDR ablegen wollte, aber von Walter Ulbricht hierzu mit den Worten überredet worden ist: ”Du bist wohl verrückt, die Leute sollen wissen, woher man überall zu uns kommt.” Von Schnitzler sagte später in einem Fernsehinterview dazu: ”Und er hatte natürlich recht damit, es ist ja ein gewisser Anreiz im Fernsehen.”

Welchen Stellenwert diese Verwandten im Dritten Reich innehatten, schilderte von Schnitzler in einem Interview: ”Freiherr Kurt von Schröder, ein Vetter von mir, Bankier in Köln, finanzierte Hitler bereits seit 1928 (...). In seinem Hause in Köln-Lindenthal fand die Begegnung zwischen Papen und Hitler am 04. Januar 1933 statt, aus der dann die Hitler-Regierung am 30. Januar erwuchs. Er war Organisator und Verwalter des Sonderkontos S der Freundeskreisstiftung Heinrich Himmler oder so ähnlich, also einer von den wichtigsten Bankiers, die Hitler gemacht und gefördert haben. Mein Vetter, Dr. Georg von Schnitzler, war Verkaufsdirektor des IG-Farbenkonzerns. Seine Unterschrift steht unter den Lieferverträgen Zyklon-B, des Giftgases für die Konzentrationslager; und ich habe noch ein paar von der Sorte” (zitiert nach: Ludes, Peter (Hrsg.): DDR-Fernsehen intern: von der Honecker-Ära bis ”Deutschland einig Fernsehland”. Berlin: Wiss.-Verl. Spiess, 1990, S. 273).

Ob aus Trotz zu den gegebenen Umständen oder aus innerer Überzeugung sei dahingestellt, jedoch tritt von Schnitzler mit 14 Jahren, 1932, in die Sozialistische Arbeiterjugend (ASJ) ein, die sein gesamtes späteres Denken prägt. In jungen Jahren beginnt Karl-Eduard von Schnitzler sich entgegen seiner familiär gutsituierten Ausgangslage mit dem Kommunismus zu beschäftigen, jener Weltanschauung also, die all jene materiellen und machtpolitischen Grundwerte beseitigen will, die sein eigenes Elternhaus wie nur wenige in Deutschland vertrat. Ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers schlägt er sich auf jene Seite des politischen Denkens, der er zeitlebens treu bleiben wird, und von der er bis heute keinen Deut abgewichen ist.

Soweit die genauen Umstände über die Vita von Schnitzlers während der NS-Zeit unklar und widersprüchlich sind, sicher ist jedoch, daß er am 07. Juni 1944 zu den Engländern übergegangen ist und schon am 10. Juni 1944 seinen ersten Beitrag bei der BBC in London gesprochen hat. Dieses Datum darf bewußt als Beginn der journalistischen Laufbahn Karl-Eduard von Schnitzlers bezeichnet werden. Von diesem Tag an verschmilzt die Privatperson mit dem Moderator bzw. Kommentator von Schnitzler.


Journalistischer Aufstieg

Nach seinem Übertritt zu den Engländern beginnt Karl-Eduard von Schnitzler als verantwortlicher Redakteur für die tägliche BBC-Sendung ”Hier sprechen deutsche Kriegsgefangene zur Heimat” und lernte die Grundregeln für redaktionelles, journalistisches Arbeiten, wie die richtige Sprechweise und die psychologische Wirkung der Gestaltung von Radiosendungen.

Aufgrund seiner Erfahrung bei der BBC wurde von Schnitzler kurz nach der Kapitulation im Juni 1945 von den Engländern nach Deutschland geschickt, zum damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) nach Hamburg (der neugeschaffene Rundfunk in der damaligen Britischen Besatzungszone hieß ab 26. September 1945 ”Nordwestdeutscher Rundfunk” (NWDR) und setzte sich aus dem heutigen Norddeutschen Rundfunk (NDR) mit Sitz in Hamburg und dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) mit Sitz in Köln zusammen. Hauptsitz des NWDR war damals das alte Funkhaus in Köln). Dort zuerst als Kommentator tätig, wurde der überzeugte Kommunist Karl-Eduard von Schnitzler am 01. Januar 1946 als erster amtierender Intendant und Leiter der politischen Abteilung des NWDR in Köln eingesetzt.

War er am Anfang wegen seiner Arbeit in London und seiner ”sauberen” Denkweise als Journalist geschätzt, geriet er bald mit der britischen Besatzungsmacht auf Grund seiner extrem linken Denk- und Arbeitsweise in Konflikt. Von Schnitzler selbst sagt, er ”habe in Köln antifaschistisch-demokratische Politik gemacht!” (aus: Bierbach, 1990). In den schwierigen und ungewissen Zeiten der ersten Nachkriegsjahre wurde diese Meinung jedoch vielseitig ausgelegt. Vor allem bei dem britischen Chefcontroller in Deutschland, Hugh Carlton Greene (ein Bruder des Schriftstellers Graham Greene), eckte von Schnitzler mit seiner Art von demokratischem Journalismus zunehmend an, bis dieser ihn 1947 schließlich wieder nach Hamburg zurückversetzte. Die Spannungen zwischen dem journalistischen Anspruch der Besatzungsmacht und der Arbeit von von Schnitzler wuchsen weiter und führten schließlich, noch im Frühjahr 1947, zur fristlosen Entlassung von Schnitzlers.

Die Vorgänge jener Zeit zeigen deutlich, wie fest Karl-Eduard von Schnitzler schon in seiner journalistischen Anfangszeit dem kommunistischen Gedanken folgte, ohne dabei auch nur im Geringsten an seiner weltpolitischen Anschauung zu zweifeln. Für ihn war demokratische Politik zugleich und ausschließlich sozialistische Politik, und nur in dieser Form war - vor allem nach dem nationalsozialistischen Regime - der Aufbau eines neuen Deutschlands möglich. Die Alliierten waren dabei für ihn die Mächte, die die Umsetzung seiner Ideale verhinderten, vielmehr die Teilung in zwei deutsche Staaten vorantrieben. Wie tief von Schnitzler von dieser Meinung überzeugt war, schreibt er in einem ”offenen Brief” aus Berlin im März 1947, wo es u.a. heißt: ”Anstatt Objektivität, Fortschritt und Frieden zu dienen, hat der NWDR Partei ergriffen und ist eine Bastion gegen den Osten geworden” (aus: Bierbach, 1990). Zugleich wird schon in den Anfängen des neugegründeten Rundfunks deutlich, wie ‘sensibel’ die alliierten Machthaber auf jedwede Form kommunistischen Gedankengutes reagierten, und welchen Stellenwert dabei vor allem die Massenmedien in einem im gesellschaftlichen und politischen Aufbau befindlichen Land besitzen.

Logische Folge der Ereignisse war für von Schnitzler sein Weggang von Westdeutschland nach Ost-Berlin, wo er von Michael Storm (das journalistische Pseudonym von Markus ”Mischa” Wolf), Kommentator beim ”Berliner Rundfunk”, der Rundfunkanstalt unter Leitung der Sowjetischen Besatzungmacht, erwartet wurde. Wahrscheinlich über diese Beziehungen wurde von Schnitzler nach eigenen Angaben dort sofort Festangestellter. Hier befand sich für ihn jene Rundfunkanstalt, die seine ”politische Heimat” wurde. Von hier aus habe er ”keine kommunistische Politik” betrieben, sondern lediglich ”ein einheitliches antifaschistisch-demokratisches Deutschland befürwortet, in dem die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei um die Vormacht kämpft” (alle Zitate: Bierbach, 1990). Wieder zeigt sich deutlich der objektive Widerspruch in von Schnitzlers politisch-journalistischer Denk- und Arbeitsweise. Was soll seine Tätigkeit gewesen sein, wenn sie nicht kommunistisch, aber die Arbeiterklasse zum Sieg führen soll? Wie soll sie objektiv sein, wenn sie an der Führung der Partei angelehnt ist?

Beim ”Berliner Rundfunk” arbeitete von Schnitzler von Anfang an im Fernsehbereich, zunächst leitete er neben seiner Kommentatorentätigkeit eine Diskussionsrunde. Dieser sogenannte ”Treffpunkt Berlin” war eine Rundfunkdiskussion mit westlichen Journalisten. Die zuerst auf Hörfunk ausgerichtete Debatte wurde von Michael Storm (alias Markus Wolf) geleitet, erst als 1957/58 eine Fernsehsendung daraus konzipiert wurde, übernahm von Schnitzler den Vorsitz des Gesprächs und führte ihn elf Jahre lang. Die eigentliche Aufstieg des Karl-Eduard von Schnitzler beginnt an jenem Montag, den 21.März 1960, als er mit seiner wöchentlichen Sendung ‘Der Schwarze Kanal’ erstmals auf Sendung geht. Von da an sollte der Kommentator von Schnitzler wie kein zweiter Journalist die politische Fernsehlandschaft der DDR, bis zu der friedlichen Revolution im Herbst 1989, bestimmen.


Journalistisches Selbstverständnis

”Niemals wird am demokratischen Rundfunk ein Volksfeind, ein Friedensfeind Gelegenheit haben, die Redefreiheit zu mißbrauchen. Unser Rundfunk, der heute sein zehnjähriges Bestehen feiert, ist ein Rundfunk des Volkes. (...) Das ist für uns Auftrag und Verpflichtung. Und darum können wir auch nicht objektiv sein, sondern wir sind parteiisch. (...) Und wir lehnen es ab, objektiv Meinungen solcher Männer wie Adenauer oder Dulles wiederzugeben, denn das würde objektiv den Plänen der Adenauer oder Dulles nützen. Wir aber bekämpfen diese Pläne.” [Der Text stammt vom Monitordienst des RIAS-Berlin, wo fast alle Kommentare von Schnitzlers archiviert sind. Von Schnitzler selbst, auf diese Aussage angesprochen, sagte dazu: ”Also, das müßten Sie mir zeigen, diese Bemerkung. In dieser Form kann ich sie garnicht geäußert haben, weil ich mich um Objektivität und Parteilichkeit - was kein Widerspruch ist - immer bemüht habe” (aus: Bierbach, 1990).]

Das journalistische Selbstverständnis Karl-Eduard von Schnitzlers setzt sich in erster Linie aus Widersprüchen objektiver und subjektiver Sichtweisen zusammen. Wenn er selbst sagt, Objektivität und Parteilichkeit sei kein Widerspruch, stellt er zugleich die allgemeine Begriffsdefinition der Wörter in Frage. Eine solche Paradoxie zieht sich durch sein gesamtes publizistisches Schaffen. Einem freiheitlich denkenden Menschen wird eine solch offensichtlich widersprüchliche, trotzdem feste Überzeugung richtigen Handelns unverständlich bleiben; es fragt sich allerdings, ob von Schnitzler selbst diese Widersprüche bewußt geworden sind; ob er seine Anschauung in bewußter Überzeugung oder in unbewußter Verblendung geäußert hat. Er ist immerhin ein intelligenter Mensch, belesen, wortgewandt und gebildet. Allein aus seinen Aussagen ist sein manifestiertes ‘falsches’ Denken nur schwerlich nachzuvollziehen.

Eine Trennung von politischem Standpunkt und Pressearbeit fand niemals statt, die Unmöglichkeit publizistisch unabhängiger Arbeit in demokratischen Staaten war für von Schnitzler kein Argument. Den Vorwurf, er sei ein parteikonfomer Journalist gewesen, der im Grunde genommen immer auf der Regierungslinie gelegen habe, kontert er lapidar mit der Tatsache, daß sich seine Auffassung lediglich mit der Linie seiner Partei und Regierung gedeckt habe. Von Schnitzler unterstreicht dies noch mit einem Brecht-Zitat: ”Ich denke nicht so, weil ich hier bin, sondern ich bin hier, weil ich so denke” (aus: Bierbach, 1990).

Von Schnitzlers leitete das Credo seiner Arbeit konsequent aus dem kommunistischen Gedanken ab, der vorrangig alle anderen Denkschritte beeinflußte: ”Wo immer ein Kommunist arbeitet und lebt - er wird zur Arbeiterklasse und zu den Ideen des Kommunismus stehen, er wird offensiv das menschenfeindliche und reaktionäre Wesen des Imperialismus enthüllen und konsequent die Auseinandersetzung mit seiner Ideologie führen!” (aus dem Programm der SED, Berlin 1976). Der sozialistische Grundgedanke prädestinierte also a priori jede Äußerung in seinem Sinne zu einer wahrhaftigen, richtigen Aussage. Folglich ändert sich auch die denotative Bedeutung der Worte. Von Schnitzler 1990 zu der Frage, ob die Amerikanisierung des Fernsehens jetzt auch auf die DDR durchschlage: ”Kommentar heißt ja, ein Ereignis oder einen Ausspruch zu erklären, und das ist sträflich mißachtet worden in den letzten Jahren. Der einzige, der das machte, war ich im ‘Schwarzen Kanal’” (aus: Ludes, 1990, S. 277).

Aber nicht der kommunistische Gedanke allein war richtungsweisend für von Schnitzlers agitativen ‘Journalismus’. Die zweite Triebfeder war seine Verachtung der westlichen - seiner Meinung nach imperialistischen und kapitalistischen - Gesellschaftsformen, im Besonderen der Westdeutschlands. So gibt er denn als Anspruch an seine Arbeit an, ”er habe immer nur zur ‘Hygiene im Äther’ beitragen wollen, um der ‘Hetze’ der westlichen Medien gegen den Sozialismus und speziell den auf deutschem Boden etwas entgegenzusetzen” (Stuttgarter Zeitung, 02.11.1989). Auch hier herrscht wieder die überzeugte Verblendung bei von Schnitzler vor, die Unwahrheiten seien einzig und allein von westlicher Seite verbreitet worden, er habe diese lediglich richtiggestellt: ”Das einzige, was im ‘Schwarzen Kanal’ nicht wahr war, waren die Zitate aus dem BRD-Fernsehen, die ich zu wiederlegen [sic] versuchte (...).”

Wie verblendet ”die einstige Nervensäge der Nation” (DER SPIEGEL, 36/1991, S. 78) auch heute noch ist, zeigt eine Anekdote, die wie eine Ironie der Geschichte erscheint. Karl-Eduard von Schnitzler fühlte sich als Opfer einer Hetzkampagne und richtete Vorwürfe gegen eine große deutsche Tageszeitung, weil er ”in einem Artikel auf die übelste Weise angegriffen worden” sei (Chemnitzer Morgenpost, 12.04.1994), um im nächsten Atemzug zu berichten, daß er den Imperialismus ”niemals übertrieben dargestellt” habe und daß man ”erst jetzt am eigenen Leibe erfahre, wie recht er doch all die Jahre gehabt habe” (ebd.). Von Schnitzler läßt auch rückblickend keinerlei kritische, selbstreflektierende Betrachtung zu, geschweige denn sieht er ein Fehlverhalten oder falsche Aussagen seitens seiner Person. Er ist auch heute noch überzeugter Kommunist, den keinerlei schlechtes Gewissen wegen der Verbreitung von Unwahrheiten peinigt, vielmehr sei ”es bis zum heutigen Tage nicht gelungen, auch nicht einmal der Versuch unternommen worden (...), mir nachzuweisen, daß ich jemals etwas aus dem Zusammenhang gerissen oder verfälscht hätte” (aus: Ludes, 1990, S. 269). ”Asche gehört aufs Glatteis oder in die Urne, nicht aufs Haupt” (DER SPIEGEL, 36/1991, S. 78) und außerdem sei der ”zurückgeworfene Sozialismus (...) dem Kapitalismus überlegen” und werde ”im nächsten Jahrhundert die Oberhand gewinnen” (ebd.).

Das journalistische Selbstverständnis Karl-Eduard von Schnitzlers zu erfassen, heißt, sich immer wieder fragen, was richtig und was falsch war. Seine Kommentare und Meinungen sind hämisch-aggressiv, beleidigend und arrogant, besserwisserisch und aufdeckend, dabei - vor allem aus heutiger westlicher Sicht - augenscheinlich falsch. Aber sie regen zum Nachdenken an, über die Geschichte zweier deutscher Staaten, über die subjektive Sichtweise aus dem Lebensumfeld zweier Seiten einer Todeslinie, und sie sind Dokumentation einer Zeit, wie sie in dieser Weise wohl nur der kalte Krieg auf einen geteilten Staat und dessen Einwohner projizieren konnte.


Profil und Machart

Der ‘Schwarze Kanal’ war eine wöchentliche Sendung, die jeweils Montags um 21.35 Uhr nach dem Montagsfilm ausgestrahlt wurde und 20 Minuten dauerte. Der Titel bezog sich auf die westdeutschen Fernsehsender, die in Anlehnung an die christdemokratische Regierung der Bundesrepublik als politisch tiefschwarz bezeichnet wurden. Wie dies in den östlichen Medien gesehen wurde, zeigt ein Auszug aus der Sächsischen Zeitung vom 25.03.1985, anläßlich des 25jährigen Jubiläums des schwarzen Kanals: ”Der Titel bezieht sich bekanntlich auf Fernsehstationen jenseits unserer westlichen Staatsgrenze, die sich öffentlich-rechtlich und unabhängig nennen, tatsächlich jedoch als imperiale Klassenmedien fungieren. Wie sie diesem Auftrag nachkommen, welche antikommunistischen und fortschrittsfeindlichen Auffassungen sie verbreiten, mit welch manipulativen Methoden und Tricks das geschieht, wie und in welcher Weise sie sich damit verwickeln - das dokumentiert auf unverkennbare Weise im DDR-Fernsehen ‘Der Schwarze Kanal’” (ebd). In der Sendung wurden Ausschnitte aus westlichen Nachrichten, Reportagen und Polit-Magazinen ausschnittweise gezeigt und von Karl-Eduard von Schnitzler im Sinne von ‚Konterpropaganda‘ konterkariert.

Der Moderator von Schnitzler war dabei jedesmal allein vor der Kamera und kommentierte die einzelnen Bildausschnitte ruhig von seinem Sessel aus, aber mit aggressiver Polemik, scharfer Zunge und rücksichtsloser, auch persönlich angreifender Argumentationsweise, etwa bei Sätzen wie ”da schwitzt zunächst einmal der fette Franz Josef Strauß durch den schwarzen Kanal des westdeutschen Fernsehens” (aus: SPIEGEL-TV vom 06.11.1989), oder die auf West-TV bezogene Aussage wie ”Man kann gar nicht soviel davon fressen, wie man kotzen möchte” (ebd.). Daß dabei sein Auftreten nicht unbedingt die Akzeptanz der Bevölkerung erreichte, zeigt ein Rückblick auf von Schnitzler in der Chemnitzer Morgenpost von 1994: ”Kennen Sie sein Lächeln? Diese Mischung aus Überlegenheits-Gefühl, Arroganz und Besserwisserei und ‘Ihr könnt mich sowieso alle mal’?” (Chemnitzer Morgenpost vom 12.04.1994, S. 14).

Die Resonanz in der Bevölkerung gab von Schnitzler zu Anfang mit 50% und mehr Einschaltquote an, die wegen dem schwindenden Interesse am Fernsehen sich dann bei rund 30% eingependelt habe (vgl. Ludes, 1990, S. 270f). Dabei muß beachtet werden, daß in den ersten Jahren des Rundfunks lediglich ein bzw. zwei Programme zur Verfügung standen, und die Einschaltquoten in der DDR niemals offiziell bekannt waren. Eine objektive Bewertung dieser Zahlen ist also nicht möglich. Auch die Aussage von Schnitzlers, er ”habe nie 3% gehabt wie Herr Höfer in seinem ‘Frühschoppen’ mittags um zwölf. Mit 3% Prozent gibt es bei uns keine Sendung, die wäre abgesetzt worden” (aus: Ludes, 1990, S. 280), ist insofern vorsichtig zu betrachten und kann unter den gegebenen Umständen des Staatsfernsehens der DDR als unwahrscheinlich gelten.


Funktion und Intention

Als Funktionsbeschreibung des ‘Schwarzen Kanals’ gibt Karl-Eduard von Schnitzler an, es sei eine ”ideologische Auseinandersetzung Sozialismus - Kapitalismus am Beispiel westlicher Medien” (aus: Ludes, 1990, S. 280) gewesen. Die ”systematische Enthüllung des menschen- und fortschrittsfeindlichen Charakters der imperialistischen Klassenherrschaft” sollte durch eine ”scheinbare Entlarvung der politischen Manipulation seitens des Westfernsehens” (ebd.) geschehen. Nach außen hin wurde die aggressive Form der Auseinandersetzung mit dem sich ”objektiv verändernden Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus” und der ”subjektiv organisierten psychologischen Kriegsführung des Imperialismus” begründet (zitiert aus den ”Theoretische[n] Grundfragen des sozialistischen Journalismus”, Karl-Marx-Universität, Sektion Journalismus, Leipzig 1980, S. 251f).

Allein diese Begründung entblößt sich bei genauerem Hinsehen als eine Anti-Begründung. Denn wenn sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus entwickelt hätte, wäre wohl kaum eine solch propagandistische Form der medialen Nachrichtenaufbereitung vonnöten gewesen. Die beeinflussende Wirkung seiner Hetztiraden gegen den Westen war Karl-Eduard von Schnitzler nicht nur bewußt, sie waren sogar Ziel seiner Agitation. Noch 1985 erklärte er anläßlich der Verleihung des Ehrentitels ”Held der Arbeit”, ”der Adressat des ‘Schwarzen Kanals’ ist der DDR-Bürger. Und die Zuschauer sind Multiplikatoren, die das Gesehene und Gehörte auf vielfältige Weise weitertragen - in Schulen und Versammlungen, in die Zirkel des Partei- und FDJ-Lehrjahres, die es nutzen in persönlichen Gesprächen” (FF DABEI vom 26.05.1985). Wie dieser Nutzen auszusehen hatte, war eindeutig. Die Bürger der DDR sollten gegen den Westen aufgestachelt und aggressiv gestimmt werden.

Die Intention der Sendung wandelte sich allerdings phasenweise. Von Schnitzler selbst läßt keinen Zweifel an deren rüder journalistischer Machart, wenn er zugibt, die Sendung ”ist ein Produkt des kalten Krieges gewesen, und am Anfang brauchten wir nicht zu differenzieren. Da konnte ich montags alle Feinde in einen Sack tun, zumachen, draufhauen, immer in der Gewißheit, den richtigen zu treffen” (aus: Ludes, 1990, S. 271). Die zweite Phase der inhaltlichen Veränderung führte über eine versachlichte Auseinandersetzung zwischen sozialistischem und kapitalistischem Gedankengut; es wurden nun keine konkreten Personen - stellvertretend für eine Ideologie - angegriffen. Die dritte Phase der Veränderung trat ein mit der Patt-Situation des Nuklearzeitalters. Dabei bedeutete friedliche Koexistenz für von Schnitzler nicht ein Ende der Auseinandersetzungen. Wie immer war der Westen der Aggressor: ”(...) aber daß diese Auseinandersetzung so zu führen ist, daß sie politische und wirtschaftliche Verhandlungen nicht störte und die Atmosphäre nicht vergiftete - wir haben uns daran gehalten, auch ich in meinem ‘Schwarzen Kanal’. Der Westen hat sich nicht daran gehalten” (aus: Ludes, 1990, S. 272).

Von Schnitzler hielt anscheinend die Bevölkerung der DDR für dumm. Allein die Tatsache, daß mehr als zwei Drittel der Ostdeutschen westliches Fernsehen empfangen konnte - die eigentliche Grundlage des ‘Schwarzen Kanals’ - hätte ihm vor Augen führen müssen, daß seine Argumentationen keinen glaubhaften Anklang fanden. Vielmehr führten sie zum Gegenteil. Konnte man seine Sendung aus westlicher Sicht noch belächeln, empfanden die DDR-Bürger seine Aussagen als ärgerliche und unverschämte Verhöhnung ihrer eigenen Situation, und nicht zuletzt als persönliche Beleidigung. So schreibt rückblickend die Freie Presse in Sachsen in einer analytischen Betrachtung: ”Brechreiz löst weniger der Inhalt aus als vielmehr von Schnitzlers permanent aggressive Sprache, die grobschlächtige Argumentation, die so zur Pseudo-Argumentation wird.” Und weiter: ”Von Schnitzler beherrscht meisterhaft die Kunst des Weglassens, des Jonglierens mit aus dem Zusammenhang gelösten Einzelheiten und Zitatfetzen. Realität ist für ihn ein Vehikel; sie wird benutzt, um Behauptungen an ihr abhandeln zu können” (Freie Presse, 08.01.1993).

So ist es kein Wunder, daß er im Volk den Namen ”Sudel-Ede” innehatte, auch wenn er diese Bezeichnung nicht in Verbindung mit seiner journalistischen Tätigkeit brachte - was wiederum als Beweis für sein wenig volksnahes Empfinden gelten kann. Ebenso deutlicher Beweis seiner Nicht-Akzeptanz ist die Titulierung als ”Karl-Eduard von Schni...”, weil der Zuschauer sofort abschaltete, wenn der Chefkommentator auf dem Bildschirm erschien.

Man kann nur eine völlige Fehleinschätzung der Situation konstatieren. Am aussagekräftigsten hierfür kann das Statement gewertet werden, das Karl-Eduard von Schnitzler, zur Mauer befragt, abgab. Die Grenze war ja bis 1961 bekanntlich offen, und Abenteuerlust sei ja kein Motiv gewesen, um abzuhauen. Auf die Gegenfrage des Reporters, was man denn hätte tun sollen, wenn man nicht rauskommt, antwortete von Schnitzler gereizt, aber symptomatisch: ”Ich sag Ihnen mal was. Diese ganze Diskussion um die Grenze kotzt mich auf deutsch an!” (aus: Interview Grimm/Rentner, 1992).


Umwandlung der eigentlichen Funktion im Herbst 1989

Die eigentliche Funktion des ‘Schwarzen Kanals’, die polemische Auseinandersetzung mit dem ”ideologischen Gegner”, erfuhr in den Umbruchzeiten der friedlichen Revolution im Herbst 1989 eine eigentümliche Umkehrung. Als die damalige Tschechoslowakei die Grenzen nach Westdeutschland öffnete und daraufhin eine Massenflucht einsetzte, war dies der Anfang einer innenpolitischen Umwälzung, die im Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ihr vorläufiges Ende fand.

‘Der Schwarze Kanal’ zeigte sich von dieser Entwicklung unbeeindruckt. Karl-Eduard von Schnitzler polemisierte weiterhin in gewohnt ungehobelter, arroganter und überlegenheitsschwangeren Art gegen die westliche Welt, ohne auch nur im geringsten die Zeichen der Zeit im eigenen Land zu erkennen. Für ihn war die Bürgerbewegung in der DDR vom Westfernsehen organisiert, um die Struktur des ostdeutschen Staates von innen auszuhöhlen: ”Das war schon zur Zeit des Kalten Krieges so, wo man Mauerzwischenfälle inszenierte und natürlich mit Kamera da war und Bleistift und dann vornehmlich beim Großangriff auf die DDR, der also Ende `88 eröffnet wurde und bei dem das Westfernsehen sich nicht beteiligt hat als Berichterstatter, sondern auch als Organisator” (aus: Ludes, 1990, S. 283). Die zunehmende innere Krise des Sozialismus wurde schlichtweg ignoriert und in eine reine Schuldzuweisung gegenüber dem Westen umgemünzt, nur das dem Ergebnis die eigene DDR-Bevölkerung keinerlei Glauben mehr entgegenbrachte. Nicht nur, daß von Schnitzler den gesellschaftspolitischen Entwicklungen hinterherlief, er verfehlte komplett die innere Befindlichkeit der DDR-Bürger.

Diesen Effekt verstärkte er noch mit eigenen Worte, als er als Hauptargument gegen die Flüchtlingsbewegung aus der DDR die Parole ausgab, diesen Menschen brauche man keine Träne nachzuweinen (vgl. Schlesinger, Franz: ”‘Schwarzer Kanal‘, heute zum letzten Mal”, in: Medien der Ex-DDR in der Wende - Berlin: VISTAS, 1991, S. 24f). Die ursprünglich von von Schnitzler intendierte Funktion der Sendung schlug spätestens hier ins Gegenteil um. Kurioserweise gab von Schnitzler selbst die Gründe vor, weswegen das Volk seine Absetzung verlangte, nur daß er dies mit bestem Gewissen und aus voller Überzeugung tat. Seine Verblendung war so groß, daß er selbst in den augenscheinlichsten Krisenzeiten keine Differenz zwischen seinen moralischen - sozialistischen - Idealen und der erodierten innenpolitischen Realität sah. Die Krise der DDR war demnach für ihn auch nicht von innen entstanden, sondern war seiner Meinung nach ein niederträchtiger ideologischer Angriff des Kapitalismus auf die Gesinnung der ostdeutschen Bevölkerung.

Von Schnitzler übersah dabei völlig seine Denkfehler. Er ignorierte die Entwicklungsfähigkeit und die Eigenständigkeit der Gesellschaft. Für ihn war auch in den späten 80er Jahren noch ‘Kalter Krieg’. Daß sich die Weltpolitik im Rahmen von Glasnost und Gorbatschow weiterentwickelt hatte, ging an ihm spurlos vorüber. In dem Bestreben der Montagsdemonstrationen sah von Schnitzler das Verlangen nach Abschaffung der DDR mit vordergründigen Argumenten, anstatt den Ruf nach wirklicher Veränderung in einem festgefahrenen System. Jegliche Kritik interpretierte er als Ruf nach dem Kapitalismus. Darin mündet auch sein zweiter großer Denkfehler, nämlich ”daß [die] Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen stets und ausschließlich außerhalb der Systemgrenzen gesucht wurden. Folglich trug immer der ‘Klassengegner’ die Schuld” (Schlesinger, 1991, S. 28).

Der vollkommene Akzeptanzverlust verwandelte sich in offene Forderungen der Straße, als die Demonstranten in Sprechchören Parolen skandierten wie ”Schnitzler in den Tagebau” oder ”‘Schwarzer Kanal’, heut zum letzten Mal” (aus: Schlesinger, 1991, S. 28). Die eigentliche Absicht von Schnitzlers, mit der Sendung die sozialistische Gesinnung in der DDR-Bevölkerung zu stärken, wurde aus selbstverschuldeter Ignoranz zu seinem eigenem ‘Grab’. Vielmehr verstärkte er mit seinen dumpfen, unverbesserlichen Hetztiraden noch die von ihm diskreditierte Umbruchbewegung. Die damaligen Vorgänge haben bis heute bei Karl-Eduard von Schnitzler zu keinerlei kritischer Selbstreflexion geführt. Vielmehr fühlt er sich als Opfer, als leichtfertig vorverurteilter Sündenbock einer Gesellschaft, die seine stets hochgehaltenen Ideale plötzlich als antiquiert und überholt betrachtet. Karl-Eduard von Schnitzler ist von der Geschichte überholt worden, und hat es (leider?) immer noch nicht bemerkt.


Die letzte Sendung

”Guten Abend, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen. Diese Sendung wird nach fast dreißig Jahren die Kürzeste sein, nämlich die letzte.” Mit diesen Worten verabschiedete sich Karl-Eduard von Schnitzler am 30.10.1989 nach 1518 Sendungen von ‘seinen’ Zuschauern. Dem Druck der Straße mußte auch er, der Woche für Woche in fragwürdigem Umgang mit der Wahrheit die Fahne des Sozialismus hochgehalten hatte, sich beugen.

Der Revanchismus hatte für ihn keineswegs ausgedient: ”Der Klassenkampf geht weiter, also auch die aktuelle, streitbare Politik” (aus: Claus, Werner (Hrsg.): MEDIEN-WENDE - WENDE-MEDIEN: Dokumentation des Wandels im DDR-Journalismus Oktober 1989 - Oktober 1990. Berlin: VISTAS, 1991, S. 192). Zu einer Zeit, als täglich Weltgeschichte geschrieben wurde, als nach 40 Jahren der Teilung Deutschlands die schon nicht mehr geglaubte Wiedervereinigung in greifbare Nähe rückte, argumentiert von Schnitzler immer noch mit Klassenkampfbegriffen und Revanchismus-Gedanken. Am 30.10.1989 war ‘Der Schwarze Kanal’ schon in der Gegenwart Vergangenheit, die Sendung zum Symbol einer deutschen Geschichte geworden, in der von Schnitzler sich immer noch bewegte und dachte. Der Agitator war längst zum Kalauer verkommen, seine Äußerungen zum Relikt einer verkrusteten Staatsführung, die abgelöst von den wirklichen Problemen im Land ihre ideologischen Phrasen zum ‘Wohl des Volkes’ ausrief.

Daß der Chefkommentator rein gar nichts verstanden hatte, läßt die folgende, Selbstbeweihräucherung vermuten: ”Einige mögen jubeln, wenn ich diese Fernseharbeit nun auf andere Weise fortsetze. Nicht daß ich etwas zu bereuen hätte; der Umgang mit der oft unbequemen Wahrheit ist schwer, aber er befriedigt” (aus: Claus, 1991, S. 193). Eine solche Aussage aus von Schnitzlers Mund mutet nicht nur anachronistisch an, sie muß wie blanker Zynismus gegenüber den Menschen gewirkt haben, die bei den Montagsdemonstrationen die Absetzung von Schnitzlers verlangten. Sie zeigt aber noch viel deutlicher, mit welchen Scheuklappen das Denken von Schnitzlers belegt war, wie weit sein Blick von der Realität abwich, wie groß die Diskrepanz zwischen dem verbitterten Volk auf der Straße und jenen abgehobenen, wirklichkeitsfernen ‘Offiziellen’ war.

Unverbesserlich auch die abschließenden Sätze jener letzten Sendung, die kaum eines weiteren Kommentars bedürfen: ”In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen, als Waffe im Klassenkampf zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. Und in diesem Sinne, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen, AUF WIEDERSEHEN” (aus: Claus, 1991, S. 193).

Fast schon ironisch mutet die Tatsache an, daß die SED/PDS im Januar 1990 ein Parteiverfahren gegen jenen Mann eingeleitet hat, der sich als Vorkämpfer des sozialistischen Gedankens verpflichtet fühlte (vgl. DER SPIEGEL, 36/1991, S. 78). Der Wind um Karl-Eduard von Schnitzler hat sich gedreht, nur er nicht. Die Geschichte ist für ihn in den kalten Zeiten Nachkriegsdeutschlands stehengeblieben, an den Verhältnissen jener Zeit orientiert sich auch heute noch seine politische Sichtweise. Auch wenn er bei seinen öffentlichen Auftritten heute eher als ‘Fossil’, als ‘personifiziertes Relikt’ einer DDR-Vergangenheit, als Antagonist zur Gegenwart auftritt, kann man Karl-Eduard von Schnitzler zweifellos als ein ‘Phänomen’ bezeichnen. Die teilweise Unmöglichkeit seiner Gedankenführung rationales Verständnis entgegenzubringen, mindert dabei nicht die Faszination seiner Person.



Anmerkung:
Die eigenen Angaben von Schnitzlers entstammen weitgehend der 45-minütigen Fernseh-Dokumentation von Thomas Grimm und Lutz Rentner ”‘Der Schwarze Kanal‘ oder Armes Deutschland. Eine Begegnung mit Karl-Eduard von Schnitzler.”, ORB 1992 sowie einem Hörfunk-Feature von Wolf Bierbach: ”Der Wendehals hat viele Vornamen, aber Karl-Eduard heißt er nicht!”, WDR 1990. Inwieweit sich bei von Schnitzlers Aussagen Nostalgie mit Faktizität mischt, ist vom Verfasser nicht berücksichtigt oder historisch verifiziert.



Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail bei der Redaktion: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de

 

    Sämtliche Beiträge dürfen ohne Einwilligung der Autoren ausschließlich zu privaten Zwecken genutzt werden. Alle Rechte vorbehalten.
© Medienobservationen 1997.