Der Agenda-Erfinder hat die Debatte nicht schwänzen dürfen, als Fraktionschef der SPD muss er da durch. So sitzt Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag in der ersten Reihe des Bundestagsplenums und beklatscht die gesundheitspolitische Kehrtwende seiner Partei. Die SPD-Abgeordnete Ulla Schmidt dagegen verbringt die schwere Stunde lieber im Parlamentsrestaurant. Dort muss sie die Häme aus der schwarz-gelben Koalition nicht hören. Und wie sich ihre Genossen plötzlich all dessen schämen, was sie damals als Gesundheitsministerin mit der Union auf den Weg gebracht hat – und es "aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit" wieder abgeschafft sehen wollen.

Die Zusatzbeiträge der Krankenkassen zum Beispiel, von der Ministerin seinerzeit als heilsames Wettbewerbsinstrument gepriesen. Oder der Sonderbeitrag von 0,9 Prozentpunkten für Arbeitnehmer. "Es wird zurückgekehrt zu paritätisch finanzierten Beitragssätzen", fordert die SPD-Fraktion nun kategorisch. Die Zeiten sind andere. Man ist in der Opposition. Und man will die nächste Wahl gewinnen. "Wir können in Nordrhein- Westfalen doch nicht gegen die große Kopfpauschale polemisieren und die kleine Kopfpauschale verteidigen", sagt der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach.

Dem Gesundheitsexperten obliegt es denn auch, den Radikalschwenk zurück zur reinen Lehre im Bundestag zu begründen. Lauterbach tut es mit einer Mischung aus Attacke und "mea culpa". Man sei eben "lernfähig", sagt er. In Zeiten sinkender Löhne sei es falsch, die steigenden Gesundheitskosten allein den Arbeitnehmern aufzubürden. Die Zusatzbeiträge seien seiner Partei von der Union aber auch "aufs Auge gedrückt" worden.

Da stelle die SPD ihr Licht aber gehörig unter den Scheffel, kontert Jens Spahn (CDU). "Sie waren doch oft genug bockig." Tatsächlich verabschiede sich die SPD nun von elf Jahren eigener Gesundheitspolitik und falle wieder zurück in den "Populismus der 80er und 90er Jahre". In dieselbe Kerbe schlägt die FDP-Gesundheitsexpertin Ulrike Flach. "Es ist Ihr Gesetz, es ist Ihr Gesundheitsfonds, und es sind auch Ihre Zusatzbeiträge", ruft sie. "Wenn Sie mit alldem so unzufrieden waren, warum haben Sie die Koalition dann nicht verlassen?"

Verwirrend sei der "Lernprozess" der SPD, befinden auch Oppositonskollegen. Es hätte ihn "mehr gefreut, wenn Sie diese Position zu einer Zeit vertreten hätten, als Sie noch was zu sagen hatten", sagt Harald Weinberg (Linke). Und die Grünen- Politikerin Biggi Bender bescheinigt der SPD ein "gewisses Glaubwürdigkeitsproblem". Inhaltlich liege die Partei aber richtig. Die Zusatzbeiträge seien "der Türöffner für das ungerechte Kopfpauschalensystem", das man bekämpfen müsse.

Die SPD tut das inzwischen energisch – auch mit Blick auf Umfragen, wonach 80 Prozent der Bürger gegen einkommensunabhängige Prämien sind. Am Montag erst startete sie eine bundesweite Kampagne gegen das Prämienmodell, am Donnerstag hatte sie schon mehr als 17 500 Unterschriften. Durch diese Positionierung erhoffen sich die Sozialdemokraten Rückenwind für die NRW-Wahl am 9. Mai. Bei der nämlich gehe es auch um die Bundesratsmehrheit, die für die gesundheitspolitische Weichenstellung entscheidend sei. Möglicherweise hoffe ja sogar die Kanzlerin, die Pauschale für nicht durchsetzbar erklären zu können, lästert SPD-Chef Sigmar Gabriel. Dann müsse sie wenigstens den Dauerstreit in den eigenen Reihen nicht klären.

Doch Ärger gab es auch bei der SPD. Es sei "ganz schwer" gewesen, die Kehrtwende gegen die Altvorderen durchzusetzen, hieß es. Und dass es sich um eine "Operation am offenen Herzen" gehandelt habe. Zur Glaubwürdigkeit gehöre aber die Abkehr von "faulen Kompromissen", fanden die Parteioberen. Dafür nahmen sie im Bundestag den Vorwurf "politischer Amnesie" in Kauf. Die SPD tue so, "als bestünde das Land aus Menschen, die sich an nichts erinnern", höhnt die FDP-Politikerin Flach. Aus all dem sticht nur ein leise Wortmeldung des Grünen-Fraktionschefs heraus. Er finde ja, sagt Fritz Kuhn, "dass Lernprozesse das einzige sind, was Politik wirklich erträglich macht".