Propagandaoffensive für die Kopfpauschale

Wie aus einem Köderangebot von 140 Euro schnell 570 und mehr werden können

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Man kann die Kopfpauschale als eine Art gesundheitspolitischen Irakkrieg sehen: Auch bei Letzterem ließen sich diejenigen, die ein ideologisches oder wirtschaftliches Interesse daran hatten, nicht gleich dadurch entmutigen, dass es keine Mehrheiten für ihr Vorhaben gab. Stattdessen warteten sie ab und holten ihre lange vorher bereitstehenden Pläne im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 aus der Schublade. Trotzdem bedurfte es noch einer eineinhalbjährigen Propagandakampagne, bis die amerikanische Öffentlichkeit schließlich sturmreif für einen Einmarsch im Irak geschossen war.

Ähnlich verhält es sich mit der Kopfpauschale: Sie verschwand in der Schublade, nachdem die CDU 2005 mit ihr die Bundestagswahl verlor, und wurde bei den Koalitionsverhandlungen 2009 erst dann wieder aus dem Hut gezaubert, als kaum einer der Unionswähler noch mit ihr gerechnet hatte. Nun läuft die Überzeugungsphase, mit der sichergestellt werden soll, dass eine Umsetzung nicht in allzu herbe Verluste für CDU und CSU mündet.

Denn Kopfpauschalen sind unpopulär. Nicht erst seit 2005, sondern schon lange vorher. Abgaben, welche nicht nach Zahlungsfähigkeit unterscheiden, wurden (wie das Brockhaus-Konversationslexikon von 1908 weiß) vor allem "unterworfenen Völkerschaften auferlegt" - beispielsweise Einwohnern von Kolonien. Auch die Dschizya, die islamische Eroberer Angehörigen von "Buchreligionen" auferlegten, kassierten sie häufig als Kopfpauschale.1 Außerhalb von Unterwerfungssituationen tauchen solche Abgaben seltener auf. Als die damalige englische Premierministerin Margaret Thatcher 1990 eine poll tax einführen wollte, wurde dies zur wichtigsten Ursache für ihren Sturz.

In Deutschland lehnen 80 Prozent der Bevölkerung die von der Regierung geplante Krankenversicherungs-Kopfpauschale bisher strikt ab. Offenbar nicht zuletzt deshalb versuchten der bayerische Umwelt- und Gesundheitsminister Markus Söder und Horst Seehofer die im Koalitionsvertrag festgelegten Schritte dahin zu relativieren. Allerdings gibt es auch CSU-Abgeordnete, die ganz offensiv für das Modell werben - beispielsweise Hans-Peter Friedrich und Wolfgang Zöller. Zöller sitzt seit 1990 im Bundestag, Friedrich seit 1998. Beide dürfen auch dann mit einer großzügigen Pension rechnen, wenn sie bei der nächsten Wahl aus dem Parlament fliegen. Und während ihrer aktiven Zeit als Abgeordnete konnten sie in zahlreichen Fällen miterleben, wie dem Ausscheiden aus der Politik nach einer Wahlniederlage ein fürstlich bezahlter Job in der freien Wirtschaft folgte.

Fürstlich sind auch die Honorare, welche die derzeit von Organisationen wie der Informationszentrale der Bayerischen Wirtschaft e.V. übers Land geschickten Kopfpauschalenverteidiger wie Bernd Raffelhüschen für ihre Vorträge erhalten. Die PR-Veranstaltungen, bei denen er auftritt, sind eine Art Heilsarmee für freie Journalisten: Die Besucher bekommen umsonst zu essen, wenn sie sich dafür Predigten anhören, von denen die Veranstalter hoffen, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen. Das muss nicht immer der Fall sein - bei manchen Kollegen etwa merkt man schon an der Kleidung, dass es ihnen an einem Auftraggeber fehlt, bei dem sie einen Text unterbringen könnten. Bei anderen dagegen funktioniert die Propaganda offenbar tatsächlich.

Kern der Botschaft ist die Behauptung, eine Kopfpauschale könne es für 140 Euro geben. Wäre dem tatsächlich so wäre, dann müsste man sich freilich fragen, warum private Anbieter für solch eine vorerkrankungsunabhängige Versicherung rund 570 Euro berechnen - und auch das nur auf staatlichen Druck hin.

Eine Teilerklärung ist, dass zur Kopfpauschale noch ein Arbeitgeberanteil hinzukommt, der jedoch dem Willen von FDP-Politikern nach langfristig wegfallen soll. Weil der Arbeitgeberanteil früher als Kostenbremse wirkte, indem für Ausgabensteigerungen zugunsten von Pharmaindustrie, Ärzten oder Geräteherstellern wie Siemens auch Arbeitgeber aus anderen Branchen mitzahlen mussten, haben all diese Akteure im Gesundheitswesen ein starkes Interesse an seiner Abschaffung. Freiberufler müssen wahrscheinlich gleich nach einer Umstellung die doppelte Kopfpauschalensumme bezahlen. Und auch auf die Empfänger von Transferleistungen wird dieser bisher aus öffentlichen Kassen gezahlte Anteil möglicherweise früher abgewälzt als auf Arbeitnehmer - sofern man ihnen diese Last nicht sogar von Anfang an ganz oder teilweise aufbürdet.

Doch selbst dann, wenn der Arbeitgeberanteil noch eine Zeit lang beibehalten wird, gibt es nur drei Wege, auf denen sich eine Kopfpauschale für 140 Euro verwirklichen lässt: Der erste ist der bloße Etikettenschwindel: Man behält die (lediglich abgesenkten) lohnabhängigen Zahlungen einfach bei und packt eine Kopfpauschale als zusätzliche Belastung dazu.

Die zweite Möglichkeit ist die massive Subvention aus Steuermitteln. Auf dieser Subvention würde von Anfang an ein ebenso massiver Abbaudruck liegen. Es liegt nahe, dass man sie bei jedem der in der Zukunft drohenden Haushaltslöcher und jeder Überschreitung der Euro-Defizitgrenze ein wenig abbauen würde. Und wenn 2016 die von Union und SPD im Windschatten der Finanzkrise beschlossene "Schuldenbremse" in Kraft tritt, dann könnte es mit dieser Steuersubvention endgültig vorbei sein und die Beträge würden in Höhe jener der privaten Krankenversicherungen liegen. Eine vollständige Privatisierung der Krankenversicherungen auf diesem Umweg ist auch das erklärte Ziel vieler Befürworter des Kopfpauschalenmodells - allerdings sagt man das selten so offen. Lediglich dann, wenn man sich beim Plausch als Sympathisant der Sache gibt, werden diese wahren Ziele nach und nach offengelegt.

Der dritte Weg ist die Herausnahme von Leistungen aus dem Erstattungskatalog, bis nur noch ein Kernschutz übrig bleibt, der fast alles als Selbstbehaltsbereich des Versicherten definiert und wenig mehr ist, als ein erzwungener Schutz der Krankenhäuser vor Zahlungsausfällen. Wer arm ist, der hat dann zwar theoretisch eine billige Krankenversicherung, zahlt aber durch Arztrechnungen und Medikamente im Durchschnitt sehr viel mehr Geld an das Gesundheitssystem als jetzt. Auch dieser Effekt wird von manchen der besonders engagierten Befürworter der Kopfpauschale hinter vorgehaltener Hand durchaus begrüßt: Weil eine direkte Kürzung von Renten und Transferleistungen auf politischem Wege schwer durchsetzbar ist, setzen sie darauf, dass eine "Flexibilisierung" der Leistungen mit "mehr Wahlmöglichkeiten" indirekt zu diesen Effekten führt.