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Zusatzbeiträge: Experten warnen vor „Bürokratie-Chaos“

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Teure Gesundheit: Immer mehr Krankenkassen müssen einen Obolus erheben. Der Verwaltungsaufwand für die Zusatzbeiträge ist gewaltig – Experten rechnen mit Mehrkosten von bis zu 700 Millionen Euro im Jahr.
Teure Gesundheit: Immer mehr Krankenkassen müssen einen Obolus erheben. Der Verwaltungsaufwand für die Zusatzbeiträge ist gewaltig – Experten rechnen mit Mehrkosten von bis zu 700 Millionen Euro im Jahr. © dpa

München - Das Geld aus dem Fonds reicht nicht aus – immer mehr Krankenkassen müssen daher Zusatzbeiträge erheben. Während sich Regierung und Opposition gegenseitig die Schuld zuschieben, warnen Experten vor einem „Bürokratie-Chaos“.

Die Idee hat durchaus Charme, die Umsetzung ist allerdings eine Katastrophe. Mit den Zusatzbeiträgen wollte Schwarz-Rot endlich den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stärken. Dazu beschloss die Große Koalition ein Bonus-Malus-System: Wer mit dem Geld aus dem Fonds nicht auskommt, kann seit 2009 Extra-Gebühren verlangen. Erwirtschaftet eine Kasse Überschüsse, darf sie diese als Prämie an ihre Mitglieder auszahlen. Soweit die Theorie – die Praxis ist allerdings weitaus komplizierter. Ein Überblick über die größten Probleme.

Prämien-Versprechen

Bisher haben nur einige kleinere Krankenkassen Prämien ausgeschüttet. Die Mehrzahl der Versicherungen hielt sich dagegen zurück – allerdings nicht, weil sie schlecht gewirtschaftet hatten, sondern weil abzusehen war, dass schon bald eine Milliarden-Lücke im Fonds klaffen wird. Dies hat die Große Koalition bewusst in Kauf genommen, um den bundesweit einheitlichen Beitragssatz (derzeit 14,9 Prozent) niedrig zu halten. So steht im Gesetz, dass der Gesundheitsfonds bereits im zweiten Jahr nur 95 Prozent der Ausgaben decken muss. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Versicherungen Zusatzbeiträge erheben müssen.

Ein-Prozent-Regel

Im Streit um sozialverträgliche Zusatzbeiträge haben sich SPD und Union auf ein kompliziertes Konstrukt geeinigt. Grundsätzlich dürfen die Extra-Gebühren höchstens ein Prozent des Bruttoeinkommens betragen. Das heißt: Ein Geringverdiener mit 1800 Euro im Monat zahlt 18 Euro. Die maximale Belastung liegt aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3750 Euro bei 37,50 Euro im Monat. Bis zu einem Obolus von acht Euro gibt es aber keine Einkommensprüfung. Die Kombination aus beiden Regeln führt zu einigen Absurditäten. Ein Beispiel: Eine Kasse erhebt einen Zusatzbeitrag von acht Euro. Ein Auszubildender mit 600 Euro im Monat zahlt auch acht Euro, obwohl dies mehr als ein Prozent seines Einkommens entspricht. Die Härtefallregel greift nicht. Erhöht die Versicherung die Extra-Gebühr auf 12 Euro, zahlt der Auszubildende nur sechs Euro (1-Prozent-Regel). Das heißt: Für den Auszubildenden lohnt sich sogar der Wechsel zu einer Kasse, die rein rechnerisch einen höheren Zusatzbeitrag erhebt.

Verzichtet die Versicherung auf einen prozentualen Zusatzbeitrag und erhebt stattdessen einen fixen Betrag, dann müssen Geringverdiener nachweisen, dass bei ihnen die Härtefall-Regel greift. Kündigungsfristen Kündigt eine Kasse Zusatzbeiträge an, gibt es ein Sonderkündigungsrecht. Dies gilt nur bis zur ersten Fälligkeit. Ein Beispiel: Kasse X beschließt einen Zusatzbeitrag rückwirkend zum 1. Februar, fällig erstmals am 15. März. Bis Mitte Februar informiert die Kasse ihre Versicherten. Kündigt ein Mitglied im Februar, ist ein Wechsel zum 1. Mai möglich. Bis zum Ende der Mitgliedschaft wird kein Extra-Beitrag fällig. Kündigt ein Mitglied am 14. März, ist ein Wechsel zum 1. Juni möglich. Es fällt ebenfalls kein Zusatzbeitrag an. Bei einer Kündigung nach dem 15. März wird dagegen ein Zusatzbeitrag fällig. Das Sonderkündigungsrecht gilt nicht für Versicherte, die sich in einen Wahltarif (etwa Tarife mit Selbstbehalt) eingeschrieben haben. Die Mindestbindungsfrist für Wahltarife beträgt in der Regel drei Jahre.

Wechsel-Welle

Völlig unklar ist, wie viele Versicherte ihrer Kasse den Rücken kehren, falls sie einen Obolus erhebt. Angeblich wollen mehrere tausend Versicherte die DAK verlassen, nachdem sie einen Zusatzbeitrag von acht Euro angekündigt hat. Die Wechsel-Welle kann für kleinere Kassen zur ernsten Gefahr werden. Kündigen gerade die Gutverdiener, kann die Versicherung wachsende Lücken im Budget auch durch höhere Zusatzbeiträge nicht mehr ausgleichen. Schließlich gilt für Geringverdiener die Acht-Euro-Grenze. Die Folge: Die Kasse geht unverschuldet pleite.

Bürokratie-Kosten

Bisher werden die Kassenbeiträge vom Arbeitgeber abgeführt. Um Extra-Gebühren einzutreiben, müssen die Versicherungen für jedes Mitglied ein eigenes Konto anlegen. Bei einem Obolus über acht Euro ist auch eine Einkommensprüfung nötig. Der bürokratische Aufwand ist gewaltig. Schätzungen gehen von Mehrkosten von jährlich bis zu 700 Millionen Euro aus. Gesundheitsökonom Jürgen Wasem sieht noch ein weiteres Problem. „Es droht auch ein teures Bürokratie-Chaos, allein weil der Wechselnde ständig neue Versichertenkarten braucht.“

STEFFEN HABIT

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