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Frührente Psycho-Gutachten ist Glückssache

Stress im Job kann krank und depressiv machen. Manchmal so sehr, dass Betroffene nicht mehr arbeiten können. Doch ob man als arbeitsunfähig gilt und Anrecht auf Frührente hat, hängt von einem wohlwollenden Gutachter ab, wie eine Studie zeigt.

Krank oder gesund? Arbeitsunfähig oder belastbar? Wenn ein Arbeitnehmer an einer Depression erkrankt, kann es passieren, dass er total ausfällt. Dann hat er die Möglichkeit Frührente zu beantragen. Ob er Anspruch darauf hat, beurteilt der Rentenversicherer. Eine entscheidende Rolle spielen dabei psychiatrische Gutachten, die die Rentenversicherer bei externen Gutachtern in Auftrag geben.

Andreas Broocks, Professor an den Helios-Kliniken Schwerin und sein Kollege Julian Dickmann, Psychiater in Oldenburg, haben die Zuverlässigkeit dieser psychiatrischen Gutachten bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit untersucht.

Broocks und Dickmann hatten dafür den fiktiven Fall einer schwer depressiven Arbeitnehmerin konstruiert und 22 Gutachtern vorgelegt. Die Gutachter wurden darüber informiert, dass es sich um einen fiktiven Fall handelte. Als Honorar erhielten sie 130 Euro, was nach Angabe der Autoren dem üblichen Satz entspricht, den die Deutsche Rentenversicherung (DRV) für ein Gutachten zahlt.

Alle 22 Experten waren erfahren und bereits über zehn Jahre lang als Gutachter tätig. Im Schnitt erstellten sie elf Gutachten pro Monat, schreiben die Autoren in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie".

Das Urteil fiel nach Ansicht der Autoren zu hart aus

Doch was die Fachleute ablieferten, war erstaunlich: 18 Gutachter beurteilten die Patientin als teilweise oder voll arbeitsfähig - nach Meinung der Autoren ein viel zu hartes Resultat: "Der Fall war so konstruiert, dass er die Kriterien des Verbandes Deutscher Rentenversicherer für eine Berufsunfähigkeit erfüllte", sagte Broocks im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

Bei dem fiktiven Fall handelte es sich um eine 49 Jahre alte IT-Sachbearbeiterin, die an einer wiederkehrenden schweren Depression litt. Neben den klassischen Symptomen einer Depression - gedrückte Stimmung, verminderter Antrieb und Aktivität, Verlust von Lebensfreude, Interessen und Konzentration - hatten Broocks und Dickmann auch bei der Konstruktion des Lebenslaufs der fiktiven Patientin mit Problemen nicht gespart: Seit 1977 habe sie bereits Depressionen und war in ambulanter und stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen.

Außerdem trinke sie zuviel Alkohol, 0,4 Liter Wein jeden Abend. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe einen Selbstmordversuch unternommen. Die Patientin habe wiederholt ärztliche und psychiatrische Behandlung bekommen, mache eine Psychotherapie und nehme Antidepressiva. Seit zwei Jahren sei sie bereits arbeitsunfähig. Da aber nach 18 Monaten ihre Krankengeldzahlungen ausgelaufen wären und sie Arbeitslosengeld erhielte, hätten Arbeitsamt und Arbeitgeber ihr zur Stellung eines Rentenantrages geraten.

Für die Beurteilung hatten die Gutachter neben allen notwendigen ärztlichen Unterlagen und Befunden auch ein 15-minütiges Video erhalten, das die angeblich depressive Patientin im Interview mit ihrem behandelnden Psychiater zeigte. Sie wurde von einer Kollegin Broocks' gespielt, einer Psychotherapeutin mit 15 Jahren Berufserfahrung. Ein gängiges Verfahren, wie Broocks versichert und selbst für Fachärzte von einem echten Patienten nicht zu unterscheiden.

Vita und Video überzeugten die meisten Experten jedoch nicht: Sieben Gutachter hielten die Patientin für noch imstande, einer Arbeit von drei bis sechs Stunden pro Tag nachzugehen - was immerhin einen Anspruch auf eine teilweise Rente gerechtfertigt hätte. Und nur vier Experten schätzten das Leistungsvermögen der Patientin geringer als drei Stunden pro Tag ein. Nach den Kriterien der Rentenversicherer ist dies die Voraussetzung für die Gewährung einer Frührente.

Sind objektive Gutachten überhaupt möglich?

Doch Brooks macht den Kollegen keinen Vorwurf: "Für 130 Euro ist es in der Regel nicht möglich, ein valides Gutachten zu erstellen." Erstellt ein Arzt neben seiner Haupttätigkeit noch zehn oder mehr Gutachten pro Monat, müssen diese seiner Meinung nach zwangsläufig oberflächlich und auf dem Niveau von Willkürentscheidungen bleiben.

"Bei einem Gutachten dürfen nicht nur Symptome gezählt werden, es müssen die Biografie und die aktuellen Lebensumstände eines Patienten analysiert werden, dafür braucht es Zeit", meint Broocks. Für ein fundiertes Gutachten brauche man seiner Meinung nach je nach Kompliziertheit mindestens drei bis sechs Stunden. "Unterhalb von 300 Euro ist da nicht viel zu machen!"

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) teilte SPIEGEL ONLINE auf Anfrage mit, dass es sich bei den 130 Euro lediglich um die Grundvergütung handelt, die ergänzt wird um die Kosten für Zusatzdiagnostik, Schreibgebühren, Porto und Telefonkosten. Die tatsächliche Honorierung der psychiatrischen Fachgutachten liegt laut DRV im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch wie die Grundvergütung.

Gutachter-Honorarsätze zu niedrig?

Michael Linden vom Reha-Zentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung sieht bei der Gutachten-Problematik die Honorarsätze zwar nicht als entscheidenden Punkt, bestätigt aber, dass Gutachten zeitaufwendig sind:

"Ich denke, dass man einem akademischen Arzt so viel pro Stunde zahlen sollte, wie einem Klempner - also 60 bis 80 Euro." Rund fünf Stunden an Aufwand erfordert ein sozialmedizinisches Gutachten dieser Art nach Meinung Lindens. Nach Klempnerstundensatz entspräche dies einem Honorar von rund 300 Euro und läge damit bei Broocks Forderung.

Sorgfältigere Gutachten wären nach Ansicht Broocks auch im Interesse des Rentenversicherers: "Wenn der Gutachter genauer hinsähe, könnte er auch erkennen, ob zum Beispiel ein Rentenbegehren bei dem Patienten vorhanden ist." Mit anderen Worten: Der Psychiater könnte herausfinden, ob der Patient seine Leiden womöglich übertriebener darstellt, als sie sind. Umgekehrt würden Menschen, die wirklich nicht mehr arbeiten können, nicht wegen eines oberflächlichen Eindrucks ungerecht beurteilt.

Doch für Linden steht die Zeit nicht im Vordergrund: "Man braucht keine fünf Stunden, um herauszufinden, ob jemand depressiv ist. Ein erfahrener Gutachter hat schnell eine Idee davon, was los ist." Eher werde ein Großteil der Zeit dafür erfordert, das Papier justiziabel zu machen, "damit das Gutachten unmissverständlich wird und nicht dazu beiträgt, dass sich Rechtsanwälte darüber streiten, was gemeint ist."

"Gutachter sind keine Hellseher"

Doch können Gutachten zu der Psyche eines Menschen wirklich so eindeutig ausfallen? In einer Stellungnahme des DRV zu der Studie heißt es: "Trotz aller Bemühungen um eine einheitliche Leistungsbeurteilung bei psychischen wie auch somatischen Erkrankungen beinhaltet die Komplexität des Themas eine Entscheidungsvarianz." Somit sei eine eindeutige Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen erschwert.

Die Kritik von Broocks und Dickmann hält Linden für übertrieben. Objektive Urteile seien bei solchen Gutachten nicht möglich. Es sei, so schreibt er im Editorial der Fachzeitschrift, bei der Vielfalt der zu berücksichtigenden Informationen "aus grundlagenwissenschaftlichen Überlegungen völlig ausgeschlossen, dass es eindeutige Urteile und zwingende Schlussfolgerungen daraus gäbe".

Zudem sei die Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit immer ein Prognoseurteil. Nicht um die Feststellung des aktuellen Zustandes gehe es, sondern um den absehbaren Verlauf einer Krankheit in einem zukünftigen Zeitraum von etwa sechs Monaten. Linden: "Gutachter sind keine Hellseher, sondern können Wahrscheinlichkeitsaussagen machen, die zwischen Null Prozent und hundert Prozent variieren."

Lindens Fazit fällt daher eher defätistisch aus: "Dass man in einem solchen Verfahren als Patient an einen strengen oder einen gutherzigen Gutachter geraten kann, damit muss man leben, so wie man schon in der Schule damit leben musste, dass es strenge und wohlwollende Lehrer gab."